PKEuS' Blog

über Welt-, Politik- und Wirtschaftsgeschehen

Am 23.02.2025 wählt Deutschland einen neuen Bundestag, und im Endspurt vor der Wahl melde ich mich wie üblich wöchentlich zu Wort. Nachdem ich letzte Woche Bilanz der letzten Legislaturperiode gezogen habe, möchte ich nun die besonderen Umstände darlegen, unter denen Politik derzeit stattfindet.

In ruhigen Zeiten sind die Folgen einer Handlung absehbar: Auf eine wohlkalkulierte Provokation folgt ein Sturm im Wasserglas, die eigene Position rückt für einen Moment im Mittelpunkt und es gelingt, die eigene These in den Köpfen zu platzieren. Zugleich operieren alle Beteiligten in einem recht engen Handlungskorsett: Bricht man daraus aus und übertritt die geschriebenen oder ungeschriebenen Regeln, folgt eine Reaktion oder Sanktion, mit der sich das System selbst erhält (z.B. die Hohmann-Affäre 2003). In bewegten Zeiten ist das anders: Entwicklungen sind nicht mehr statisch und vorhersagbar, sondern können eine Eigendynamik entfalten. Die Akteure agieren unter echter Unsicherheit. Keine Provokation ist mehr kalkulierbar: es ist ebenso denkbar, dass garkeine Reaktion erfolgt, weil alle von anderem abgelenkt sind, oder nicht erst als Provokation wahrgeommen wird, wie, dass eine harmlos scheinende Bemerkung eine Lawine lostritt (z.B. Schabowskis Pressekonferenz 1989).

Ich halte es für die größte intellektuelle Schwäche des Menschen, dass wir strukturell nicht dazu in der Lage sind, dynamische Entwicklungen zu erfassen. Damit meine ich nicht, dass wir sie nicht nachvollziehen könnten – Selbstverständlich können wir im Nachhinein eine Entwicklung beschreiben und uns zurecht rationalisieren, ja sogar durchaus erfolgreich ihre Ursachen und Treiber analysieren. Das ist die Arbeit von Historikern. Mit Erfassen meine ich, eine solche Dynamik bereits während ihrer Entwicklung zu erkennen und ihre Tragweite und ihren Ausgang abzuschätzen. John Maynard Keynes fasste es in seiner unnachahmlichen Art so zusammen: „We simply do not know“ (The General Theory of Employment, 1937). Zwar gab es immer wieder Beispiele, in denen einzelne Menschen große weltgeschichtliche Entwicklungen zutreffend ex-ante analysiert haben – etwa die Vorhersage des Zusammenbruchs der UdSSR durch Emmanuel Todd, oder die Bankenkrise von 2007 durch Max Otte – doch weder haben uns diese Personen eine generische Analysemethodik geliefert, noch konnten sie derartige Erfolge bislang wiederholen. Nein, diese Beispiele sind eher nicht der Beweis dafür, dass Menschen dynamische Entwicklungen intellektuell erfassen können, sondern sie hatten das Glück einer zutreffenden Intuition. Erst auf dieser Basis konnten sie mit ihrem Fachwissen Schlüsse ziehen, die sich später als zutreffend herausgestellt haben, während die Schlussfolgerungen vieler Anderer sich nicht bestätigten.

Warum die lange Vorrede? Ich denke, es besteht große Einigkeit darüber, dass wir in bewegten Zeiten leben. Wenn das aber so ist, dann stehen Eignung und Wert aller getätigten Lageeinschätzungen und Vorhersage ebenso in Zweifel, wie die Angemessenheit politischer Handlungen (von der Entscheidung des Wählers bei der Bundestagswahl bis zum Agieren eines Bundeskanzlers), die von der Annahme ausgehen, dass die Mechanismen des politischen Systems so wirken, wie wir es gewohnt sind.

Omnipräsent sind die Warnungen vor einem Erstarken der AfD, die zunehmend so klingen, als stünde die Machtübernahme kurz bevor. Auf den ersten Blick wirkt das geradezu lachhaft angesichts von Wahlumfragen, die der AfD derzeit etwa ein Fünftel der Stimmen verheißen. Selbst in Thürigen, wo die AfD ihr stärkstes Ergebnis eingefahren hat, ist sie mit 33% weit von einer eigenen Mehrheit entfernt. Wenn die Journalisten und Altparteien nun also warnen, dass die AfD politische Mehrheiten erlangen könnte, bevor es passiert ist, haben wir hier nicht möglicherweise den Beweis, dass diese Leute eben doch die dynamische Entwicklung des Phänomens „AfD“ erfasst haben? Mitnichten.

Die Altparteien können zwar noch immer mit großen Mehrheiten den Bund und alle Länder regieren, doch inzwischen Bedarf es hierzu einer Kooperation aller (Thüringen), oder fast aller (Rest) anderen Parteien. Als Verstärker fungiert das lange beschworene „Zusammenstehen gegen die AfD“, bzw. die „Brandmauer“; ein Kartell der Altparteien, das dazu führt, dass selbst dort, wo formell auch noch Altparteien Teil der Opposition sind, diese die jeweilige Regierungspolitik in ihrem Kern stützen. Es verschwindet damit die Binnendifferenzierung innerhalb der Altparteien, wodurch die Parteien außerhalb des Kartells – also i.W. die AfD – zur einzigen Option für einen Wähler wird, der mit der Regierungspolitik oder ihrem bescheidenen Ergebnis unzufrieden ist. Es ist damit also womöglich der Kipppunkt längst überschritten, ab dem die Entwicklung der AfD sich selbst trägt. Die Brandmauer ist dabei das Paradebeispiel für einen Mechanismus, der in ruhigen Zeiten als Sanktion für Grenzüberschreitungen das System erhält, während er es in der längst eingetretenen Lage schädigt. Wer das Konzept „Brandmauer“ jetzt als ein geeignetes Rezept zur Bekämpfung der AfD preist, ist sicherlich nicht auf der Höhe der Dinge – und das sind erschreckend viele derzeit.

Heißt das, dass die AfD mittelfristig die Regierung anführen wird? „We simply do not know.“ Allerlei Ereignisse sind denkbar, die die politischen Verhältnisse wesentlich zuungunsten der AfD verändern können. Die Altparteien und ihre Anhängerschaft haben allerdings keine Steuerungsmittel mehr an der Hand, die AfD kontrolliert zu bekämpfen.

Eine größere Gruppe von Politikern betreibt unter großer medialer Anteilnahme seit geraumer Zeit die Einleitung eines AfD-Verbotsverfahrens. Wissen die eigentlich, was sie tun? Unter den gegenwärtigen Umständen können sie die Folgen ihres Treibens überhaupt nicht seriös absehen. Wie stellen diese Leute eigentlich sicher, dass ein solches Verbotsverfahren nicht zu einem Bürgerkrieg statt einer Dezimierung der AfD führt? Oder agieren diese Politiker im Glauben, dass sie einen solchen Bürgerkrieg unter Zuhilfenahme der ihnen derzeit gegebenen staatlichen Machtmittel gewinnen würden? Das wäre ebenso zynisch wie gefährlich, denn auch diese Kalkulation lässt sich gegenwärtig nicht sicher anstellen. Haben sie die Sache überhaupt unter Kontrolle, d.h. wäre ein Abbruch oder Scheitern des Verbotsverfahrens überhaupt für die eigene Anhängerschaft akzeptierbar, nachdem sie bereits die Behauptung der Verfassungsfeindlichkeit der AfD wie ein Faktum tief in die Köpfe ihre Anhängerschaft gehämmert haben? Ja, auch ein Scheitern eines Verbotsverfahrens könnte in Gewalt enden; immerhin führte voriges Jahr bereits ein Video betrunken grölender Partygäste auf Sylt zu Eruptionen von kollektivem Hass und Massendemonstrationen, die sich gegen die AfD richteten – mithin einer Vorstufe eines Bürgerkriegs. Dazu ein anderes Mal mehr.

Ist das ein Plädoyer für Untätigkeit oder dagegen, politische Risiken einzugehen? Ein Plädoyer, sich wie das Kaninchen im Angesicht der Schlange zu verhalten? Nein! Es ist ein Plädoyer für verantwortungsbewusstes Agieren. Das heißt, Probleme zu erkennen, benennen und mit Maßnahmen anzugehen, die erkennbar zu einer Besserung der Lage beitragen. Friedrich Merz hat insoweit in der vergangenen Woche verantwortungsvoll gehandelt, indem er notwendige Maßnahmen zur Abstimmung gebracht hat, obwohl er damit ein politisches Risiko eingegangen ist. Wer jedoch heute politisches 4D-Schach spielt, und lieber taktiert als offen agiert, handelt verantwortungslos, denn er weiß nicht, was er anrichtet.

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