Die Wahl der Unwählbaren
Unsere Schwarz-Roten Koalitionäre dachten, mit dem Sondervermögen von fast einer Billion Euro eine solide Grundlage für vier Jahre entspanntes Regieren geschaffen zu haben. Doch schon zwei Monate nachdem Friedrich Merz zum Kanzler gewählt wurde, ist man auf gutem Wege als die am kürzesten amtierende Bundesregierung in die Geschichtsbücher einzugehen. Doch der Streit geht nicht ums Geld, sondern um das Bundesverfassungsgericht:
Drei Stellen für Richter am Bundesverfassungsgericht sind neu zu besetzen. Für zwei der Stellen räumt das Parteienkartell im Bundestag der SPD das Vorschlagsrecht ein. Die schickt Frauke Brosius-Gersdorf und Ann-Katrin Kaufhold ins Rennen, zwei Juraprofessorinnen, übrigens beide ohne Richtererfahrung. Kurz vor der Wahl durch den Bundestag, die am 11.7. unmittelbar vor der Sommerpause geräuschlos über die Bühne gehen sollte, fiel den Unionsabgeordneten ein, dass sie Brosius-Gersdorf eigentlich doch eher nicht wählen möchten. Als dann der Verdacht eines Plagiats gegen sie bekannt wird, hatten sie auf die letzte Minute einen Vorwand, die Wahl abzusagen – und nicht riskieren zu müssen, dass die Kandidatinnen bei der Wahl durchfallen.
Warum will die CDU Brosius-Gersdorf nicht wählen? Weil sie für die Legalisierung von Abtreibungen eingetreten ist und argumentierte, das ungeborene Kind habe keine oder nur eine eingeschränkte Menschenwürde. Für die CDU, die sich für „christlich“ hält, unwählbar. Daneben (aber das ist der christlichen CDU ganz überwiegend egal) fabulierte Brosius-Gersdorf 2021/2022 über „eine verfassungsrechtliche Pflicht zur Einführung einer Impfpflicht“ gegen Corona und schwadronierte noch 2023 (!) von einer Neujustierung von Eigenverantwortung und Solidaritätsprinzip, indem man die Ungeimpften ihre Behandlung selber zahlen lässt. Alles natürlich verfassungskonform; ohne es direkt zu sagen, insinuiert sie, dies sei sogar vom Grundgesetz geboten, denn der „Grundsatz der Eigenverantwortung“ sei „elementarer Baustein des verfassungsrechtlichen Solidarprinzips“. Außerdem möchte sie noch die AfD verbieten, doch dazu hat die CDU keine klare Meinung. Brosius-Gersdorf wäre untragbar als Verfassungsrichterin, auch (aber nicht nur) für die CDU.
Kaufhold, die andere Kandidatin, war in der Debatte kaum beachtet. Sie postuliert eine verfassungsrechtliche Pflicht zu drastischen Klimaschutzmaßnahmen und trat bizarrerweise als Anwältin der früheren Bundesregierung in dem berüchtigten Klimaverfahren vor dem BVerfG auf. Sie verlor, und man muss sich fragen, ob das Absicht war. Daneben hat sich noch für Enteignungen ausgesprochen – also für die CDU völlig unwählbar.
Nun ist die SPD mit der Union in einer Koalition und das wirft die Frage auf, weshalb die SPD zwei Kandidatinnen aussucht, die für den Koalitionspartner inakzeptabel sind. Das tut man eigentlich nicht, sondern sucht kompromissfähige Kandidaten. Dafür sehe ich zwei Erklärungen: Die erste wäre, dass die SPD die Union vorführen will; sie vor die Wahl stellen will, sich entweder dem politischen Diktat der SPD (mit verfassungsgerichtlicher Verstärkung) zu unterwerfen, oder die Koalition und damit auch Merz' Kanzlerschaft platzen zu lassen. Die zweite Erklärung wäre, dass der Wahlvorschlag überhaupt nicht von der SPD kommt.
Erinnern wir uns zurück an das Geschacher im Frühjahr um die zwei Sondervermögen: Ist es nicht seltsam, dass das einzige bekannte Zugeständnis der sich bildenden Koalition an die Grünen, deren Zustimmung man brauchte, eine Widmung von einigen Milliarden für den Klimaschutz war? Das war ein Opfer, das ausschließlich von der Union erbracht wurde, denn die SPD dürfte sich da mit den Grünen eins sein. Ist es nicht merkwürdig, dass die SPD, die sich als fast gleichstarker Koalitionspartner aufspielt, kein Zugeständnis machen musste? Was wäre, wenn sie unter der Hand das Vorschlagsrecht für ein bis zwei Verfassungsrichterposten an die Grünen weitergeben mussten, natürlich damit verbunden, dass auch die CDU die Kandidaten wählen müssten, so als wären es Kandidaten der SPD? Es würde jedenfalls erklären, warum die Grünen sich nun lautstärker aufregen als die SPD, falls die CDU sie hier gerade um ihren Lohn betrogen haben sollte.
Ist es nicht auch merkwürdig, dass Merz und Spahn Brosius-Gersdorf einfach akzeptiert hatten, aber die Fraktion plötzlich unruhig wird? Wenn es einen solchen Handel gab, kann jedenfalls keiner offen darüber reden. Und vor allem: Der Handel war mit den alten Fraktionen von SPD und CDU geschlossen, denn es musste ja der alte Bundestag noch über die Sondervermögen abstimmen. Warum sollte sich die jetzige Fraktion der CDU an diesen Handel gebunden sehen? Wüssten die neuen Abgeordneten überhaupt von dem Handel? Selbst wenn Spahn und Merz den neuen CDU-Abgeordneten das offen erzählen würden, müssten die Abgeordneten sich doch betrogen vorkommen, wenn man ihre Stimmen für einen Handel verkauft hätte, über den sie selbst nicht einmal mit abstimmen durften.
Nun hat die SPD sich lautstark geweigert, die Kandidatin Brosius-Gersdorf zurückzuziehen und beharrt auf ihrer Wahl, ebenso wie auf der von Kaufhold. Bemerkenswert ist, dass die SPD keinen Versuch macht, die Wogen zu glätten, sondern „all in“ geht. Warum müssen es unbedingt die beiden sein? Vielleicht, weil sie den Grünen gegenüber in der Pflicht stehen. Doch wie der Wikipedia-Artikel zu Kaufhold zwar unenzyklopädisch parteiisch, aber inhaltlich immerhin zutreffend ausführt, würde Kaufhold, wie auch Brosius-Gersdorf, im zweiten Senat landen, der für Klima und Enteignungen nicht zuständig ist. Was der Artikel verschweigt: Parteiverbotsverfahren macht der zweite Senat, und beide Kandidatinnen haben sich öffentlich klar für ein AfD-Verbot ausgesprochen. Vielleicht ist das das eigentliche Ziel der Aktion. Grüne und SPD würden sich darüber jedenfalls einig.