PKEuS' Blog

über Welt-, Politik- und Wirtschaftsgeschehen

Hängt Ihnen die Flüchtlingsdebatte auch zum Hals raus? Mir jedenfalls – aber nicht, weil mir die Flüchtlinge und ihr Schicksal egal wären, sondern weil die Debatte weder notwendig gewesen wäre, noch zu irgendeinem Ziel führt. Die Debatte ist nur gleichzeitiger Kristallisationspunkt für zwei der drei größten Probleme, vor denen die deutsche Politik gewohnt ratlos steht: Erstens die Frage nach den außenpolitischen Handlungsweisen unseres Staates und unserer Verbündeten, sowie zweitens der Frage nach den fiskalischen Handlungsoptionen, die unsere Bundesregierung nicht wahrzunehmen bereit ist.

Die Außenpolitik des Westens hat die derzeitigen weltweiten Migrationsbewegungen im Wesentlichen erst ausgelöst. Wären ohne das mehr oder weniger verdeckte Eingreifen des „Westens“ in Afghanistan, dem Irak, Libyen und Syrien die Lebensbedingungen vor Ort so unerträglich, dass sich Millionen Menschen auf die Flucht machen? Hätten sich ohne Eingreifen des Westens solch blutige und zerstörerische Bürgerkriege in jedem einzelnen dieser Länder breit machen können? Hätte der „Islamische Staat“ nennenswerte Unterstützung erfahren, wenn nicht der militärische Eingriff in diesen Ländern die restlichen staatliche Strukturen zerstört und Widerstand der Bevölkerung geradezu provoziert hätte? Nein. Ohne den Westen hätte es sowohl an Zerstörungspotential (also Waffen) als auch z.T. an gesellschaftlichen Konflikten an sich gemangelt. Wer glaubt, dass der Westen durch Waffenlieferung, Ausbildung von Kämpfern, Geheimdienstoperationen oder das Entsenden eigener Kampftruppen Frieden schaffen könnte, ist blauäugig. Ein Bürgerkrieg wird nicht besser, wenn man dafür sorgt, dass beide Seiten hinreichende Mittel zu und gleiche Siegchancen bei seiner Fortführung haben, sondern nur, indem man ihn beendet. Die Lieferung von Kriegsgerät oder das Entsenden von Soldaten bringt stattdessen noch Ressourcen zur Kriegsfortführung in die Region. Die ebenso dumme wie furchtbare Außenpolitik des Westens – auch, aber nicht nur von Deutschland praktiziert – hat so erst dazu geführt, dass Millionen von Syrern, Libyern, Afghanen und co an Flucht denken müssen.

Sind die Menschen erst einmal hier, tritt das nächste Grundproblem unserer Politik zutage: Die schwarze Null. Man behauptet, hierdurch Generationengerechtigkeit zu erzeugen, entzieht aber vor allem der Wirtschaft Geld und dem Staat Ressourcen. Dabei ist das Argument genauso realitätsfern wie bescheuert, denn zukünftige Generationen werden uns nicht danken, wenn wir ihnen zwar keine Schulden, aber auch keine Infrastruktur vererben, und ohnehin vererben wir der zukünftigen Generation in exakt gleichem Umfang Schulden und Vermögen, da die Schuldtitel, die der Staat herausgeben kann, ja auch einen Besitzer haben müssen. Nutzt man das geliehene Geld nicht nur als Luftbuchung, sondern um zu Investieren, würde daraus im Saldo sogar reales Vermögen entstehen. Bar jeder vernünftigen Begründung haben sich jedoch drei Viertel der deutschen Politik ihre eigene Handlungsfähigkeit genommen. Die Flüchtlingskrise offenbart nun die strukturellen Schäden dieser Politik: Es fehlt an Personal und Infrastruktur, die weggespart wurden, und niemand traut sich, diese Probleme anzugehen, weil man den unsinnigen Begründungen der Schuldenbremse, die obendrein auch noch Verfassungsrecht darstellt, anheim gefallen ist. Unter diesen Umständen braucht man über eine Lösung der Flüchtlingskrise nicht zu diskutieren, weil es sie auf dieser Grundlage nicht geben kann, denn Aufnahme, Versorgung und langfristige Integration der Flüchtlinge (die ja bereits da sind!) kosten heute und in mittlerer Frist viel Geld und beansprucht kurzfristig auch unsere Infrastruktur erheblich – ungeachtet der zynischen Frage, welchen langfristigen Nutzen wir daraus ziehen könnten.

Erst haben unsere Regierungen also das Problem geschaffen – ohne das die breite Öffentlichkeit (oder die Flüchtlinge!) sich dieses Problem herbeigewünscht hätte –, dann weigern sie sich, über Lösungen auf vernünftige Art nachzudenken. Stattdessen betet Merkel ihr neustes Mantra: „wir schaffen das“. Anstatt solche Politiker, die offensichtlich eine Quadratur des Kreises mit allen Mitteln probieren wollen, mit öffentlichem Druck „einzunorden“, beschäftigt sich die Öffentlichkeit aber mit Selbstbeweihräucherung (Willkommenskultur) oder Zelebrationen von Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit (Pegida, Hogesa, etc.). Während die Einen, neben ihrer teilweise aufdringlichen Scheinheiligkeit, durch die selbstlose Übernahme eigentlich staatlicher Aufgaben, die die Politiker aus ihrer selbstgemachten Misere rettet (was sie daher leider vor einem Aufschlag auf den Boden der Realität bewahrt), Schaden anrichten, entziehen sich die Anderen durch ihr Auftreten und Verhalten jeder vernünftigen Diskussion. Eine Debatte auf dieser Ebene bringt nichts, sondern sie schadet, weil sie die unselige Polarisation der Gesellschaft in ihrer Einstellung zu Zuwanderern und Migranten, die phasenweise überwunden schien, wieder aufbaut.

Dem Gefühl, in Deutschland könnten Gesellschaft und politisches System zusammenbrechen, ist die Flüchtlingskrise überaus zuträglich. Nie zuvor hat sich mit solcher Deutlichkeit manifestiert, wie sehr Merkel und ihrer Regierung unfähig sind, Probleme im Sinne der Gesellschaft zu bewältigen. Selten zuvor wirkte die Regierung planloser, nie zuvor waren die Einschnitte für die Bevölkerung unmittelbarer zu spüren als jetzt und zum ersten Mal befinden sich sogar die Beliebtheitswerte der Kanzlerin im Sinkflug. Nicht, dass es nicht schon seit Jahren an allen Ecken bröselt – es sei nur an die Infrastruktur, an die Finanzkrise, an die Eurokrise und an die internationalen Konfliktfelder erinnert – doch nichts davon hat Deutschland politisch so bewegt wie nun die Flüchtlingskrise. Nicht wenige Beobachter fragen sich, ob die Lage hier „explodiert“ – dabei ist überhaupt nicht so klar, ob ein Zusammenbruch – für wie denkbar man ihn grundsätzlich auch hält – eher die Charakteristika einer Explosion oder Implosion aufweisen würde. Würde Deutschland in sich zusammenfallen, weil die Substanz fehlt, oder wird es auseinanderfliegen, weil gesellschaftliche Gruppen im Inneren beginnen, sich gegenseitig mit immer härteren Mitteln zu bekämpfen und dabei absichtlich oder als Kollateralschäden den Staat zerstören?

Nicht selten wird in dem Zusammenhang daran erinnert, dass Deutschland schon einmal zusammengebrochen ist, und meint damit die Weimarer Republik. Der weimarer Staat war zwar strukturell schwach, doch es waren extremistische Strömungen, die ihn bekämpften, und von denen eine schließlich die Macht übernahm. Erst die bürgerkriegsähnlichen Zustände machten den Weimarer Staat, der durch Reparationsleistungen, Hyperinflation und weltwirtschaftskrise geschwächt war, vollends handlungsunfähig. Es war daher – im Sinne obiger Definition – eine Explosion. Vergessen wird jedoch oft, dass eine Hälfte von Deutschland vor viel kürzerer Zeit noch einmal kollabiert ist, obwohl die Wiedervereinigung just in diesen Tagen ihr 25-jähriges Jubiläum feiert. Der Zusammenbruch der DDR verlief jedoch völlig anders und wird oft als „Zusammenbruch von innen“ bezeichnet. Nicht ohne Grund, denn die DDR hat durch jahrzehntelange Mangelwirtschaft, durch die Unfähigkeit, Probleme zu lösen, und durch das Kaschieren von Missständen durch Propaganda und Repression soviel an Substanz verloren, dass am Ende die alten Eliten vergleichsweise friedlich kapituliert haben. Für die Sowjetunion gilt dasselbe, auch sie brach zusammen, weil der Staat keine Substanz mehr hatte, seine außen- und innenpolitischen Konflikte weiter zu führen. Explosionserscheinungen (auch wenn ein Zusammenbruch bislang ausblieb) zeigte hingegen zuletzt die Türkei, erst als es zu Straßenschlachten infolge einer Regierungsentscheidung über die Bebauung eines Platzes in Istanbul kam, und jüngst erneut, als die Regierung den Kurden erneut den Krieg erklärte. Der türkische Staatsapparat ist mächtig, die Wirtschaft stark, aber gesellschaftliche Konflikte werden (hier unter Mitwirkung der Regierung) so heftig ausgetragen, dass zeitweilig die Türkei als Ganzes in Gefahr scheint. Explodiert ein Staat, so wie Deutschland 1933, so lassen sich die Splitter nur schwerlich wieder zu einer gleichsam homogenen wie offenen Gesellschaft zusammenfügen – das dritte Reich sei als Beispiel für ein totalitäres System als Ergebnis genannt, ebenso wie Syrien als Beispiel eines wohl nie wieder zusammenfügbaren gesellschaftlichen Systems. Implodiert ein Staat, ist das Ergebnis zunächst durch die Abwesenheit staatlicher Strukturen gekennzeichnet, die dann in einem schwierigen, langwierigen aber einigermaßen zuverlässigen Prozess wieder entstehen können, weil nicht die gesellschaftliche Einheit zerstört wurde, sondern nur die staatlichen Strukturen verschwunden sind. Die DDR, die der BRD beitrat, und die Sowjetunion, aus der eine ganze Reihe relativ stabiler Staaten entstanden ist, seien dafür als Beispiele genannt.

Würde Deutschland heute also mangels Substanz zusammenbrechen, oder werden gesellschaftliche Konflikte den Staat gewissermaßen hinwegsprengen? Keine einfache Frage, kennzeichnen die jetzige Krise doch sowohl die völlige Hilflosigkeit der staatlichen Institutionen, wie auch heftige Debatten zwischen den Lagern der Gegner und Freunde der Flüchtlinge.

Seit ungefähr der Wiedervereinigung sind die Bundesregierungen zunehmenend ratlos angesichts wirtschaftlicher Herausforderungen. So warf sich die Schröder-Regierung angesichts wirtschaftlicher Schwierigkeiten völlig kopflos den Lobbyisten in die Hände, die ihnen die Konzepte hinter der Agenda 2010 und Hartz IV verkauften – die zur Erosion der Sozialsysteme als einer der gesellschaftlichen Säulen der deutschen Gesellscahft führten und gleichzeitig den wirtschaftlichen Zusammenbruch der Eurozone durch Lohndumping begünstigten. Merkels Regierung reagierte erst höchst spät und schwach auf die realwirtschaftlichen Folgen der Finanzkrise von 2007, und bewies dann in der Eurokrise, dass sie, wie 90 % des politischen Systems, keine Ahnung hatten, welche Ursachen die Eurokrise hat und welche Maßnahmen zu ihrer Bekämpfung nötig wären. Stattdessen schwächte man den Staat als Akteur noch, in dem man ihm mit einer Schuldenbremse von Verfassungsrang seine finanziellen Spielräume nachhaltig genommen hat – und zwar nicht nur dem Bund, sondern auch den Bundesländern. Die Kommunen hingegen sind seit Jahren ohnehin nur noch in der Lage, zu entscheiden, welche Leistungen eingespart werden, weil sie strukturell unterfinanziert sind. Große Teile der kommunalen Verwaltungen leiden unter großem Geldmangel, auch infolgedessen an bröselnder Infrastruktur und Personalmangel. Die Handlungsfähigkeit des Staates ist damit auf allen Ebenen durch politische Inkompetenz und fehlender Substanz beschränkt. Allerdings sind diese Probleme, soweit sie politische Unfähigkeit und Personalmangel betreffen, relativ kurzfristig lösbar (zumindest hypothetisch), während die Infrastrukturprobleme auf Jahrzehnte nicht behoben werden können. Insgesamt steht der Staat damit vor gewaltigen Herausforderungen, die dadurch verstärkt wurden, dass relativ unvermittelt durch die Flüchtlingsströme erhebliche Belastungen entstanden sind. Für diese Herausforderung fehlt es an allen Enden an Kräften, um sie zu bewältigen.

Im Hinblick auf die Gesellschaft ist zunächst festzustellen, das im letzten Jahrhunderts äußerst starke gesellschaftliche Strukturen gewachsen sind; einerseits durch die große wirtschaftliche Stärke Deutschlands, andererseits aus dem Zusammenrücken der gesellschaftlichen Schichten in der Nachkriegszeit infolge der Erlebnisse der Zeit bis 1945. Diese Strukturen zu zerstören erfordert entweder viel Kraft oder viel Zeit. Ernsthafte Zerfallsprozesse der Gesellschaft sind erst seit kurzem zu erkennen, nämlich seit der Flüchtlingskrise. Dabei spielt der Staat durchaus eine Rolle, wenn er durch die Nutzung von Turnhallen als Flüchtlingsunterkünfte oder die Kündigung von Mietverträgen städtischer Wohnimmobilien Flüchtlinge gegen die einheimische Bevölkerung ausspielt. Vor der Flüchtlingskrise hingegen erwies sich die Gesellschaft als äußerst stabil, was sich etwa darin äußerte, dass trotz aller Pannen und Probleme die Umfragewerte der Regierung äußerst stabil im positiven Bereich verharrten. Zwar zeigt in den Pegida-Protesten durchaus, dass in der Flüchtlingsdebatte ein Riss durch Deutschland geht, aber dass der für eine Explosion ausreicht, ist jedoch höchst fraglich.

So scheint am ehesten wahrscheinlich, dass der Staat implodiert, denn an Substanz verliert er schon seit geraumer Zeit und die Belastungen wuchsen zuletzt rapide. Es lässt sich aber angesichts der bisherigen Stabilität der bundesrepublikanischen Institutionen ad hoc schwer einschätzen, wie weit dieser Vorgang ist, allerdings zeigt die Erfahrung aus der DDR, wie rasch und letztlich überraschend sich ein Zusammenbruch vollziehen kann. Im Gegensatz zu einer Explosion kann eine Implosion jedoch sogar als wünschenswert erscheinen, weil sie die Möglichkeit eines Neuanfangs beinhaltet – denn eine Überwindung der Missstände ist von den gegenwärtigen politischen Eliten nicht zu erwarten.

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