PKEuS' Blog

über Welt-, Politik- und Wirtschaftsgeschehen

In der Theorie ist die Welt einfach und übersichtlich: Setzt man „verkrustete“ Strukturen den Kräften des freien Marktes aus, verschwinden Probleme der Bürokratie, das System wird effizient und generiert Gewinne bei zugleich zufriedeneren Nutzern (von dann an als „Kunden“ bezeichnet). Die Kräfte des Marktes, der Zwang zum Abbau von Ineffizienzen des eigenen Überlebens Willens, der Wettstreit um Kunden, damit sich die Gewinne maximieren, sind die Anreizstrukturen hinter der Theorie. Für öffentliche Verwaltungen hat diese Theorie zwei Konsequenzen: Erstens, dies folgt unmittelbar, sind die Behörden an sich, wenn möglich, durch unternehmerische Strukturen zu ersetzen. Zweitens, dies folgt mittelbar, sind den verbleibenden Verwaltungen Marktstrukturen in Form eines Ausschreibungswesens anzuschließen. Leistungen sind nicht mehr selbst zu erbringen, sondern (in der EU: europaweit) auszuschreiben und an den besten Bieter nach transparenten Kriterien zu vergeben. So wird zumindest noch bei der Durchführung der segensreiche Einfluss der Marktkräfte wirksam, wenn schon nicht bei der Planung.

In der Praxis ist die Welt weder übersichtlich noch einfach zu erklären. Die segensreichen Effekte des freien Marktes bei privatisierten staatlichen Aufgaben sind überwiegend nicht eingetreten. So stellte der Bundesrechnungshof 2014 fest, Projekte in öffentlich-privater Partnerschaft (ÖPP) sind teurer als wenn der Staat selbst finanziert. Im 1995 privatisierten Telekommunikationsmarkt gibt es nun noch 3 große Netzanbieter, deren effiziente Strukturen es nicht geschafft haben, den Breitbandausbau in Deutschland auf international vergleichbarem Niveau voranzutreiben. Die letzte große Ausbauaktion führte stattdessen noch die Bundespost (damals zuständig auch für das Fernmeldewesen) durch, als man das Kupfernetz verlegte, auf dem sich die privaten Netzbetreiber nun ausruhen. Im Eisenbahnverkehr gerät währenddessen der privatisierte Staatskonzern, die DB, in schwere Schieflage. Seit der Privatisierung zerfällt das Netz, wenn der Staat nicht Aus- oder Neubauten finanziert, die Pünktlichkeit ist katastrophal, während jahrelang die Fahrpreise stärker als das allgemeine Preisniveau stiegen. Wo ist der segensreiche Einfluss des Marktes? Am Beispiel des Ausschreibungswesens im Schienenpersonennahverkehr soll im Folgenden ein Erklärungsansatz für diese Diskrepanz von Theorie und Praxis dargestellt werden.

Der „Markt“ für öffentlichen Schienenpersonenverkehr unterscheidet sich von Gütermärkten dadurch, dass Konkurrenz auf der Anbieterseite nur sehr begrenzt möglich ist. Die infrastrukturellen Gegebenheiten lassen nur eine begrenzte Zahl von Zugfahrten durch, und durch die Möglichkeit, auch sehr lange Züge einzusetzen, ohne dadurch das Netz stärker zu belasten, entstehen gleichzeitig in großem Maßstab Skaleneffekte. Der Einsatz zweier kurzer Züge in der gleichen Fahrplanlage wäre, schon alleine aufgrund des nötigen Netzausbaus, erheblich teurer als ein langer Zug. Schienenverkehr ist daher (in gewissen Grenzen) ein natürliches Monopol. Um also einen Markt zu schaffen, bedurfte es des Kunstgriffs der Ausschreibungen, die den Markt in Form eines Bieterverfahrens herstellen, dessen Gewinner dann für einen bestimmten Zeitraum eine Linie betreiben darf. In einem Vertrag wird festgelegt, welche Leistungen der Betreiber zu erbringen hat und welche Zahlungen er dafür zurück erhält, um das erzielte Marktergebnis für den Zeitraum zu fixieren, in dem der Markt nicht mehr wirkt.

Um sicherzustellen, dass der Vertrag nach Abschluss auch eingehalten wird und der Betreiber gute Leistungen nicht nur verspricht, sondern auch erbringt, erfordert es Anreize und Strafen, welche natürlich ebenfalls Bestandteil des Vertrags sind. So können etwa Subventionszahlungen in Abhängigkeit der Fahrgastzahlen oder Strafzahlungen bei Zugausfällen oder dem Einsatz nicht vertragsgemäßer Fahrzeuge fällig werden. Grundsätzlich kann so sichergestellt werden, dass die Interessen der Allgemeinheit gewahrt werden; allerdings gibt es zwei praktische Probleme:

Da Verträge immer unvollständig sind (ein Grundsatz, der Ökonomen bereits im ersten Semester gelehrt wird) – es können einfach nicht alle Eventualitäten und Unwägbarkeiten erfasst werden – werden sich zwangsläufig nicht alle Verfehlungen des Betreibers mit Strafen belegen lassen, da diese vorab (im Vertrag) vereinbart werden müssen. Eine Konsequenz ist, dass Belohnungsmechanismen mit quantifizierbaren Qualitätsmaßstäben (etwa Fahrgastzahlen) genutzt werden sollten, um allgemeine Anreize zu guten Leistungen herzustellen. Eine zweite Konsequenz ist, dass gigantische Vertragswerke notwendig sind, um dennoch einigermaßen eindeutige Vorschriften für den Betrieb herzustellen, in denen wenigstens die wahrscheinlicheren Zufallseinflüsse geregelt werden. Die Schaffung dieser Vertragswerke beschäftigt Scharen gut bezahlter Juristen und Verwaltungsfachleute, worin die erste Ineffizienz besteht. Dieses Problem existiert nicht nur für die Ausschreibung von Dienstleistungen, sondern auch für Ausschreibungen bei der Beschaffung von Gütern, wenn Qualitätsmaßstäbe der Ware festgelegt werden müssen.

Ein zweites Problem entsteht aus den Strafzahlungen (auch „Pönale“ genannt). Um die Nutzer des Nahverkehrs zufrieden zu stellen, muss sichergestellt werden, dass die Strafzahlungen nur ein Drohpotential sind und im Regelfall nicht notwendig werden. Der Nutzer erwartet, dass seine Züge fahren; von Strafzahlungen hat er, selbst wenn sie ihm direkt als Entschädigung ausgezahlt werden, wenig, denn der Schaden, der den gezahlten Fahrpreis im Allgemeinen übersteigt, ist bereits eingetreten (Hier sei angemerkt: Da Verkehrsverbünde als Auftraggeber und Fahrgäste als Kunden nicht identisch sind, mag der Verbund sich natürlich doch an den gezahlten Strafen mehr erfreuen als an einem guten Verkehrsangebot. Das ist aber eher ein politisches Problem; im Folgenden wird daher davon ausgegangen, dass der Auftraggeber im Interesse der Allgemeinheit handelt). Die Strafen müssen daher so hoch gesetzt werden, dass der Betreiber sich nicht lieber schlecht verhält und freiwillig Strafe zahlt, diese also einpreist. Das Problem ist nun, dass gutes Verhalten und guter Wille nicht objektiv (und gerichtsfest) messbar sind. Bestraft und belohnt werden können nur die sichtbaren Ergebnisse (also ob ein Zug fährt, pünktlich ist und im vorgeschriebenen Zustand ist). Diese Ergebnisse sind aber nicht ausschließlich vom Betreiber zu verantworten; Verspätungen anderer Züge oder Bauarbeiten können zu Zugausfällen führen, die der Betreiber nicht vermeiden kann. Schadensfälle am Fahrzeugmaterial durch schlechte Qualität (oder, wie in letzter Zeit regelmäßig passiert: Verspätete Lieferung bestellter Fahrzeuge) hat der Betreiber nicht zu verantworten, solange er alle nötigen Vorkehrungen dagegen getroffen hat. Wettereinflüsse, ungewöhnlicher Fahrgastandrang, Vandalismus und Notfälle kann der Betreiber nicht beeinflussen; er kann nur versuchen, ihre Auswirkungen möglichst gering zu halten; Also unnötige weitere Verzögerungen vermeiden und Schäden schnellstmöglich beheben. Dieser gute Wille lässt sich aber nicht wirklich messen, und eine Ausnahme von der Strafzahlung lässt sich somit oft nicht festlegen.

Der Betreiber hat dementsprechend damit zu rechnen, auch bei größtmöglichem Bemühen im Laufe der Zeit die ein oder andere Strafzahlung leisten zu müssen. Er kann das zwar zu einem großen Teil selbst beeinflussen, aber er kann trotzdem nicht vorab wissen, wieviel exakt er an Strafe zu zahlen haben wird. Er muss daher in seinem Angebot einpreisen, wieviel er an Strafe zu zahlen erwartet, zuzüglich eines gewissen (Risiko-)Aufschlags um zumindest kleinere Schwankungen abzufangen. Der Ausschreibende wird dies sogar implizit verlangen, weil er ein eigenes Interesse am Überleben des Vertragspartners hat. Nur ob das am Ende reicht, falls die Strafen doch deutlich umfangreicher sind als erwartet, ist nicht sicher. Hat der Ausschreibende nun, um bestmögliches Verhalten zu erreichen, hohe Strafen angesetzt, wird der Aufschlag, der im Erwartungswert Teil der Gewinnmarge ist, entsprechend hoch sein. Die öffentliche Hand zahlt dann aufgrund der Strafen im Scnitt überhöhte Subventionen (selbst nach Abzug der Rückflüsse durch Strafzahlungen). Dennoch besteht das Risiko, dass die Strafen zu einer existenziellen Bedrohung für das Unternehmen werden, weil dieser nicht jedes Restrisiko absichern wird. Die Möglichkeit für ein Unternehmen, gewissermaßen als Notbremse in Konkurs gehen zu können, stellt für dieses einen Wert ansich dar (auch dies lernen Ökonomen recht früh in ihrem Studium). Für die Öffentlichkeit bedeutet die Möglichkeit, der Betreiber könnte in Konkurs gehen, jedoch die Gefahr von chaotichen Zuständen, die es unbedingt zu vermeiden gilt. Verzichtet man jedoch auf die Durchsetzung der Strafzahlung wegen drohendes Konkurses des Vertragspartners, so erlischt deren Drohpotential. So können Strafzahlungen als Disziplinierungmittel der Vertragspartner am Ende in der Praxis zu zwei Ineffizienzen führen: Je höher man die Anreize für gutes Verhalten setzt, desto mehr erhöht sich das Konkursrisiko des Vertragspartners, während man zugleich unnötige Risikoprämien zahlt. Dieses Problem ist spezifisch für die langfristige Ausschreibung von Dienstleistungen, weil Leistungen über einen längeren Zeitpunkt nach Vertragsabschluss zu erbringen sind.

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