Weimarer Verhältnisse: Kollaps einer Gesellschaft
Im Sommer stand die nicht mehr so große „Große Koalition“ in Berlin vor einem Abgrund. Heute ist sie einen Schritt weiter. Bereits im Sommer stand eine Kündigung der Koalition durch CSU oder SPD im Raum, jetzt wird sie erneut gefordert. Umfragen zufolge befürworten immer mehr Wähler einen solchen Schritt - im Land der Stabilitätsfanatiker ein unerhörter Vorgang. Trotzdem steht kaum zu erwarten, dass es tatsächlich passiert: Zu groß ist die Angst der Koalitionspartner vor Neuwahlen: Merkel hat 2017 zum voraussichtlich letzten Mal eine Wahl „gewonnen“; bei der nächsten Wahl wird das Ergebnis für die Union noch schlechter - auch und gerade wenn Merkel nochmal antritt. Und die SPD würde vermutlich allenfalls drittstärkste Kraft; es wäre das Ende der SPD. Freilich geht es für keine der Parteien noch darum, den Schadenseintritt abzuwenden, sondern nur noch darum, ihn so lange wie möglich hinauszuzögern, um die Amtszeiten ihrer Mandatsträger zu maximieren.
CDU und SPD glauben, dass ihnen dieser deutsche Staat, den sie gemeinsam oder wechselweise seit 1949 regieren, gehören würde; so wie die CSU dies von Bayern denkt. So sind sie bereit, das Vermögen und die Regierbarkeit der Bundesrepublik zu opfern, um ihre Parteien zu erhalten: Beherzt genehmigt man sich eine Erhöhung der Parteienfinanzierung, um der klammen SPD unter die Arme zu greifen und die Löcher zu stopfen, die die schlechten Wahlergebnisse in die Kassen reißen. Um die Koalition zu retten und Neuwahlen zu verhindern, „bestraft“ man Hans-Georg Maaßen für seine jüngsten Fehlleistungen, indem man ihn befördert und mit einem stattlichen Gehaltsplus belohnt. Die Kanzlerin ist auch nicht mehr bereit, einen Bundesminister Seehofer zu entlassen, der die Bundesregierung beschädigt hat wie kein Zweiter. Auch dies dürfte vor allem aus Furcht vor einem formellen Bruch der faktisch längst gescheiterten Koalition geschehen sein. Um den Kontrast herzustellen, sei an das Beispiel von Helmut Schmidt erinnert: Als seine Sozialliberale Koalition zusammenbrach, hatte er den Mut, die FDP-Minister zu entlassen, beendete im Interesse des Landes das unwürdige Schauspiel, dass die FDP begonnen hatte und konnte so erhobenen Hauptes aus dem Amt scheiden.
Die heutige Bundesregierung und die sie tragenden Parteien haben, wie zum Ende der Kohl-Ära, jeden Anstand verloren (die FDP der Kohl-Ära ging jedoch schon ohne jegliche politische Integrität in diese Ära). Im Unterschied zu damals fehlt aber nun die Alternative: Diesmal sind Union und SPD am Ende, und keine der anderen Parteien ist in einer aussichtsreichen Lage, sie zu beerben. Immer weiter gleitet das politische und gesellschaftliche Klima im Land in die Richtung, die die Weimarer Republik in ihrer Endphase nahm. Zunehmend wird es schwerer, Regierungen zu bilden. Blinder Fremdenhass blüht, und seine Gärtner düngen abstruse Ängste vor Gewalttaten und „Überfremdung“. Bürgerwehren und andere Lynchmobs ziehen durchs Land, und der Staat ist nicht imstande, dem Einhalt zu gebieten.
All das koinzidiert - wie in Weimar - mit dem Zusammenbruch bestehender gesellschaftlicher Strukturen. Damals erwies sich die Konkursmasse des Kaiserreichs als nicht lebensfähig; in den wirtschaftlichen Turbulenzen der Zwischenkriegszeit führten zum Verlust aller sozialen Sicherheiten für Millionen Menschen; das Trauma des verlorenen ersten Weltkriegs und die Dolchstoßlegende, sowie etliche strukturelle und personelle Kontinuitäten aus der undemokratischen und militaristischen Kaiserzeit taten das übrige, um den Nährboden für die Nazis zu schaffen. Der Verfall unserer heutigen Gesellschaft wird bisher selten kohärent beschrieben, aber die Anzeichen gibt es doch: Der Verlust der Möglichkeit zur Lebensplanung in einer von moralischen und rechtlichen Grenzen entbundenen Wirtschaft, bei gleichzeitig immer schnellerer Veränderung unserer Lebensweise, auch und gerade infolge der (auch noch medial-politsich gefeierten) digitalen „Disruptionen“. Der Aufgabe einer aufgeklärten Schul- und Hochschulbildung zugunsten des Antrainierens wirtschaftlich nutzbarer Fertigkeiten, die von den Betroffenen sogar bereitwillig eingefordert wird (heißt euphemistisch: „praxisnahe Bildung“). Und zuletzt die Unfähigkeit unserer Gesellschaft zu einem verantwortungsvollen Umgang mit den heutigen Mitteln der weltweiten Massenkommunikation: Affekte ersetzen Argumente, Stimmungsmache ersetzt Meinungsbildung und bestehende Auffassungen von Gerechtigkeit und Rechtsstaatlichkeit werden von publizistischer Selbstjustiz, begangen von Menschen mit absolutistischen Vorstellungen ihrer eigenen Moralvorstellungen, ersetzt. Unsere gesellschaftliche Situation legt nicht den Schluss nahe, dass wir aus eigener Kraft zu einer Lösung der politischen Probleme und zu einer positiven Fortentwicklung unserer Zivilisation imstande sind. Am Ende von Weimar und der Barbarei des Nationalsozialismus stand der völlige Zusammenbruch, auf dessen Grundlage erst ein Neubeginn möglich wurde. Was am Ende der Entwicklung steht, wenn es so weiter läuft, mag man sich garnicht ausmalen.