PKEuS' Blog

über Welt-, Politik- und Wirtschaftsgeschehen

„Eine winzige Minderheit von enthemmten Extremisten“ nannte Olaf Scholz die Gegner der Coronamaßnahmen in seiner ersten Regierungserklärung im Dezember. In weiteren Reden und Interviews erklärte er, es dürfe „keine Roten Linien geben“. Und dann deklamierte er noch wiederholt, dass es keine Spaltung der Gesellschaft gebe.

Parallel dazu der neue Vorsitzende der Oppositionspartei CDU im Focus: „Unter den Demonstranten sind nicht nur notorische Gewalttäter, sondern immer mehr Bürger, die bisher ein ganz normales Leben geführt haben, und die sich [...] zu Hass- und Gewaltexzessen hinreißen lassen.“ Und weiter: „Das ist alles noch keine gespaltene Gesellschaft; mit diesem Attribut würde man diese radikale Minderheit, und es ist eine sehr kleine Minderheit, unnötig aufwerten.“ Er ist sich also mit dem Kanzler völlig einig.

Die „winzige Minderheit“ (Scholz) war allein letzten Samstag mit mehr als 100.000 Menschen in Deutschland auf der Straße. Diese 100.000 wiederum sind vermutlich nur ein kleiner Teil derer, die gegen die Corona-Maßnahmen, auch und insbesondere die Impfpflicht, sind. Über die Demonstrationen wird vielfach berichtet, dass sie friedlich seien und Gewalttaten die Ausnahme bleiben, wie bei anderen „normalen“ Demonstrationen auch. Wenn zigtausende Menschen demonstrieren, und Millionen Menschen sich bisher standhaft weigern, die von der Öffentlichkeit verlangte Impfung zu akzeptieren, ist die Spaltung der Gesellschaft ein Fakt. Und dann will unser Kanzler ohne „rote Linien“ regieren. Das darf man nur als Ankündigung verstehen, wie schon gehabt ohne Berücksichtigung von Verhältnismäßigkeit und Grundgesetz (beides normalerweise „rote Linien“) Krieg gegen das Coronavirus zu führen. Da muss man doch fragen, wer hier eigentlich der „enthemmte Extremist“ ist.

Die Einlassungen von Scholz oder Merz sind nicht deshalb bemerkenswert, weil sie solitär wären, sondern weil hier die Spitzen von Regierung und Opposition so prägnant die Mehrheits-Meinung wiedergeben, und sie zugleich haarsträubend realitätsverleugnend sind. Die Weltsicht unserer ganzen politischen Führung, von CSU bis Linkspartei, aller Miniserpräsidenten, Kanzler und Regierungsmitglieder, erinnert insgesamt an die von Erich Honecker und der DDR-Staatsführung 1989. Doch der Vergleich zur DDR hinkt, weil zwei entscheidende Unterschiede bestehen. Zum einen gab es damals – soweit mir als jemand, der nicht dabei war, bekannt – keine breite Unterstützung aus der Bevölkerung für den Kurs der SED. Heute hat auch die extremistische Regierungspolitik zahlreiche Anhänger; gewissermaßen war die DDR-Bevölkerung wohl weniger gespalten als unsere heute. Zum Anderen gab es damals ein Ausland, dass mit klarem Blick die wahren Verhältnisse sah, und umgekehrt den Bürgern der DDR als positives Vorbild zur Verfügung stand. Heute besteht dieselbe groteske Situation in fast allen Ländern der westlichen Welt, egal ob Australien, Italien, Israel, USA oder Frankreich, wenngleich in unterschiedlichen Ausprägungen.

Daher: Auch wenn es derzeit unwahrscheinlich erscheint, dass die Politik den Geist der Proteste wieder in die Flasche zurückbekommt – es ist keinesfalls ausgemacht, dass die Proteste zeitnah dazu führen werden, dass die Politik den Rückzug antritt, auf den Boden des Grundgesetzes zurückkehrt und durch Vermittlung zwischen den Lagern den Versuch unternimmt, den Riss in der Gesellschaft zu kitten. Oder dass die Regierung stürzt und der Weg frei ist für einen Neuanfang. Niemand darf darauf hoffen, dass die freiheitlich-demokratische Grundordnung ohne eigenes Zutun von selbst wiederkommt. Wer die gegenwärtige Coronapolitik ablehnt, muss das auch artikulieren.

Voriger Monat Nächster Monat Gegenwart