PKEuS' Blog

über Welt-, Politik- und Wirtschaftsgeschehen

Nun ist es vorläufig amtlich: Die CDU gewinnt, schwächer als gedacht. Die Grünen verlieren, mehr als gedacht. AfD stabil zweitstärkste Kraft, in Ostdeutschland übrigens mit riesigem Abstand stärkste Kraft. Die Linke feiert ein Sensationsergebnis, während BSW und FDP, knapper als gedacht, an der Fünf-Prozent-Hürde scheitern.

Relativ klar ist damit, was unsere Politiker damit jetzt machen werden: Sie bilden mal wieder eine Unions-SPD-Koalition, früher „Große Koalition“ genannt. Vermutlich werden sie diese Regierung auch recht zügig bilden, denn äußerer Druck (Trump/Ukraine) und innere Zwänge (bisher kein Bundeshaushalt 2025) drängen dazu, während inhaltliche Kontroversen zwischen den beiden Parteien eher als Scheingefechte ausgetragen werden dürften. Scholz und Mützenich machen den Abgang, damit ist in der SPD die Bahn frei für den Hardliner Boris Pistorius. Folglich ist in der Frage Einigkeit hergestellt, die unsere Politiker am meisten umtreibt: Was tun in Sachen Ukraine?

Union und SPD werden also einträchtig beschließen, eine große Menge Geld, die Gerüchteküche nennt 200 Mrd. €, am Kapitalmarkt zu leihen. Entweder rufen sie mit einfacher Mehrheit eine vermeintliche Notlage aus, um die Schuldenbremse für ein Haushaltsjahr aufzuheben, oder sie setzen mit Zweidrittelmehrheit ein neues Sondervermögen für die Bundeswehr ins Werk. Da die Regierung selbst unter Hinzunahme der bellizistischen Grünen keine Zweidrittelmehrheit im neuen Bundestag hat, kam jetzt sogar die Idee auf, das noch schnell mit dem alten Bundestag durchzuziehen. Wenn sie schlau sind leihen sie dabei auch gleich Geld für andere Zwecke als nur die Ukraine. Etwas weniger deutlich ist, was mit anderen Themenfeldern wird, doch die Prioritätensetzung am heutigen Tag nach der Wahl, erste Äußerungen von Merz und die Regierungsbeteiligung der SPD geben uns einen deutlichen Wink: Nicht viel vermutlich.

Doch so klar die nächsten Schritte unserer Politiker gerade scheinen, so unbestimmt sind die Folgen davon: Wie wird das Bundesverfassungsgericht auf den Versuch reagieren, die Schuldenbremse entweder mittels eines abgewählten Bundestages oder mittels einer erfundenen Notlage aufzuheben? Wie werden die Finanzmärkte reagieren, wenn die Bundesrepublik und die EU zusammen 500 bis 700 Mrd. € zusätzlich an Schulden aufnehmen will, um das Geld in das schwarze Loch „Ukraine“ zu stecken? Was würde der Versuch der EU auslösen, die Ukraine im Falle eines amerikanisch-russischen Abkommens weiter militärisch zu unterstützen? Und von dem Ukraine-Thema mal abgesehen: Wie werden die Deutschen damit umgehen, falls sich die Wirtschaftskrise ungebremst fortsetzt? Wie reagiere die Deutschen, wenn die Zahl der Messerangriffe nicht abnimmt? Was machen die Deutschen bei der nächsten Gasmangellage?

Am 23.02.2025 wählt Deutschland einen neuen Bundestag. Letztmals melde ich mich vor dieser Wahl, nun mit einer Wahlprognose, die – eingedenk meiner Ausführungen zur politischen Lage – mehr denn je ein Blick in eine Glaskugel ist.

Die Unionsparteien erwarte ich als stärkste Kraft mit 31 %. Damit erholt sich ihr Stimmanteil deutlich gegenüber der vorherigen Wahl, ohne wieder ganz alte Größe zu erreichen. An zweiter Stelle wird die AfD stehen, mit 22 %, etwa verdoppelt. 2018 wollte Friedrich Merz sie noch halbieren. Die SPD erreicht mit einigen Jahren Verspätung 15 %, damit den dritten Platz. Ob darin ein Kanzlerbonus steckt, oder man ohne Scholz noch weniger erhielte, darüber lässt sich lange spekulieren. Die Grünen, bereits 2021 auf dem Niveau ihrer Kernwählerschaft, erreichen mit 13 % nur knapp weniger als 2021. Ich vermute, dass die Linkspartei mit 6 % in den Bundestag einzieht, während das BSW (4 %) knapp und die FDP (3 %) deutlich an der Fünfprozenthürde scheitern werden.

Die Wahl wird damit voraussichtlich zwei Gewinner haben, doch für die Union ist es ein vergifteter Sieg. Sie hat nur die Wahl zwischen schlechten Optionen, um die Kanzlerschaft zu erreichen: Koalition mit der AfD, in der sie eine politische Mehrheit für ihr Programm hätte, oder eine Koalition mit SPD oder Grünen, mit denen eine Umsetzung des eigenen Programms schwierig bis unmöglich wäre. Da eine Koalition mit der AfD, egal wie sinnvoll sie inhaltlich für die CDU wäre, vollkommen ausgeschlossen wird, wird es auf SPD oder Grüne hinauslaufen.

Macht die CDU es mit den Grünen, so wird uns Minister Habeck erhalten bleiben. Ich könnte mir sogar vorstellen, dass er Wirtschaftsminister bliebe, wobei mir Finanzen wahrscheinlicher erscheint: CDU und Grüne dürften sich Wirtschaft und Finanzen aufteilen, sodass Habeck als höchstrangiger Politiker mit Ministerambitionen entweder das eine, oder das andere bekommen wird. Wenn ich die CDU wäre, würde ich dabei das Finanzministerium an die Grünen abtreten, um das Schuldenbremsen-Dilemma dem politischen Gegner zu überlassen. Ob Baerbock Außenministerin bleibt? Sie wird es wollen, und deshalb befürchte ich, dass sie es bei Schwarz-Grün auch bliebe, da ich annehme, dass das Auswärtige Amt bei den Grünen bleibt.

Wenn es hingegen die SPD wird, halte ich mit Verteidigungsminister Pistorius für gesetzt. Als Außenminister dürfte Rolf Mützenich zwar Ambitionen hegen, die ihm wahrscheinlich nicht erfüllt werden. Stattdessen gehe ich eher von einem Scharfmacher ggü. Russland aus, z.B. Michael Roth. Jörg Kukies bleibt Finanzminister. Nancy Faeser würde durch einen Unionspolitiker ersetzt. Olaf Scholz dürfte seine politische Karriere beenden.

Wohl kaum werden die Verursacher unserer Probleme, CDU, CSU, Grüne, SPD – allesamt Hauptbeteiligte der letzten zwei Bundesregierungen – die Probleme lösen, die sie angerichtet haben. Doch momentan scheint das auch eher in den Hintergrund gerückt: Mit der veränderten Politik und Ansprache der US-Regierung, steht die künftige Regierung vor einem weiteren Scherbenhaufen, den sie aus ideologischen Gründen nicht verarbeiten kann. Der Vergleich der Rede von US-Vizepräsidet Vance mit dem Auftritt Gorbatschows zum 40. Jahrestag der DDR ist irgendwie nahelieged.

Im Dezember 2024 löschte das Online-Magazin Telepolis sein Archiv. Selbst bezeichnete es dies als „Qualitätsoffensive“. Telepolis ist ein Magazin des renomierten Hannoveraner Heise-Verlags, der vor allem für seine IT-Publikationen bekannt ist. Es war bis neulich rätselhaft, weshalb Heise bzw. Telepolis einen solchen Schritt ging, nachdem man Jahrzehnte (Telepolis gibt es seit 1996) gut damit leben konnte, ein alternatives Magazin zu beherbergen, in dem viele kontroverse Artikel kontroverser Autoren erschienen. Man ruinierte den eigenen Ruf und die Bezeichnung der Maßnahme als „Qualitätsoffensive“ war eine pauschale Beleidigung aller, die dort je publiziert haben.

Zwei Monate später bin ich überzeugt, eine Erklärung für diesen journalistischen Selbstmord gefunden zu haben, denn der Publizist Alexander Wallasch hat öffentlich gemacht, dass er von der Landesmedienanstalt Niedersachsens ein Schreiben mit folgender Botschaft erhalten hat:

Wir fordern Sie daher auf, Ihre Beiträge vollständig durchzusehen und anzupassen oder von dem Angebot zu entfernen und die journalistischen Grundsätze in Zukunft einzuhalten.

Zugleich wird mit „Einleitung eines kostenpflichtigen förmlichen Verfahrens“ gedroht. Nun hat der rechte Wallasch wohl wenig mit dem linken Telepolis zu tun, doch sie haben etwas gemeinsam: Sie sitzen in Niedersachsen.

Es handelt sich übrigens um den zweiten öffentlich gewordenen Angriff einer Landesmedienanstalt auf kritische Medien und die Pressefreiheit. In Nordrhein-Westfalen erhielt schon im August 2024 Multipolar ein etwas weniger bedrohlich formuliertes, aber ähnlich gelagertes Schreiben.

Doch zurück zu Telepolis: Was dort im Dezember geschah, ist die exakte Umsetzung dessen, was nun von Wallasch gefordert wird. Ich bin mir sicher, Heise hat genau ein solches Schreiben von der Landesmedienanstalt Niedersachsens erhalten – und gekuscht.

Am 23.02.2025 wählt Deutschland einen neuen Bundestag und im Endspurt vor der Wahl melde ich mich wie üblich wöchentlich zu Wort. Vorige Woche schrieb ich über die besonderen Umstände, unter denen Politik derzeit stattfindet. Nun möchte ich das ein wenig vertiefen: Wir stehen am Rande innerer Unruhen, wobei ich das Wort Bürgerkrieg noch nicht bemühen möchte.

Nun demonstriert „eine winzige Minderheit von enthemmten Extremisten,“ „Bürger, die bisher ein ganz normales Leben geführt haben, und die sich [...] zu Hass- und Gewaltexzessen hinreißen lassen.“ In Anführungszeichen stehen die zusammengefügten Worte von Bundeskanzler Scholz und Oppositionsführer Merz. Welch präzise Einordnung der Vorgänge dieser Tage, wären diese Äußerungen nicht bereis drei Jahre alt. Doch während damals Bürger gegen die Einschränkung elementarer Grundrechte demonstrierten, ist der Anlass nun, dass eine Mehrheit der Abgeordneten im Bundestag für einen folgenlosen Antrag der CDU gestimmt hat. Daneben – und das gab es zu den Corona-Demos nicht – wird landesweit von Übergriffen auf Geschäftsstellen der CDU berichtet, von tätlichen Angriffen auf CDU-Wahlkämpfer und wegen der Sicherheitslage abgesagten Wahlkampfaktivitäten.

Man muss sich diese Vorgänge wirklich auf der Zunge zergehen lassen. Da bringt die Union (nicht die AfD!) einen Antrag ein, um mit einem drängenden Problem umzugehen. Dann stimmt eine Mehrheit der vom Volk demokratisch gewählten Abgeordneten für einen Antrag, der nicht mehr als eine Handlungsaufforderung an eine unwillige Regierung ist, also effektiv rein garnichts ändert. Jetzt heißt es „Tausende Menschen demonstrieren in SH für Demokratie“ (NDR). Die Demonstrationen von letztem Wochenende wurden sofort von wohlwollender Berichterstattung flankiert: , „Scharfe Kritik und beißender Spott“ (Tagesspiegel), „Wir sind hier, weil wir Angst haben“ (Zeit), alles Zitate aus Überschriften oder Anreißer, sind nur drei schnell gefundene Beispiele von Dutzenden derartiger Artikel.

Was wir – vor allem aber die Union – nun erleben, ist nur ein kleiner Vorgeschmack dessen, was blüht, sollte es irgendwer wagen, eine Bundesregierung unter Duldung oder gar Beteiligung der AfD bilden. Die Drohung wirkt: Sofort kehrt er zur alten Veweigerungshaltung zurück und wiederholt den alten Fehler, der schon der SPD auf die Füße gefallen ist. Sollte die CDU in irgendeiner Form mit der AfD zusammenarbeiten – und das wäre bereits eine Duldung eines CDU-Kanzlers durch die AfD – wird jede weitere dann Lügen gestrafte derartige Äußerung von Merz Wind inden Segeln seiner politischen Gegner sein. Innerparteilich schart eine Altkanzlerin ihre Jünger um sich, ihren ungeliebten Nachfolger abzusägen, und auf den Straßen wird der Mob toben. Sie werden versuchen, das Konrad-Adenauer-Haus zu besetzen, CDU-Geschäftsstellen verwüsten und beschmieren und Abgeordnete bedrohen. Jede Bewegung im öffentlichen Raum würden für Merz und seine Gefolgsleute zum Spießrutenlauf. Die Journalisten werden dazu jedoch nicht Bilder der Zerstörung, sondern beeindruckender Menschenmassen zeigen, die mit bunten Bannern und schlauen Sprüchen durch die Paradestraßen von Berlin ziehen.

Gleichwohl, die Realität lässt sich nicht dauerhaft verleugnen. In den letzten zehn Jahren wurden in Deutschland 2,7 Mio. Erstanträge auf Asyl gestellt. Insgesamt zählte das Statistische Bundesamt für die Jahre 2014-2023 fast 7 Mio. Zuwanderer nach Deutschland. Trozt demographischem Wandel und vielbeschworenem Rückgang der Bevölkerung wuchs die Einwohnerzahl Deutschlands in zehn Jahren von 81 auf 84,5 Mio. Menschen. Und mit den vielen Zuwanderern kamen große Probleme ins Land, eines davon Gewaltkriminalität. Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass diese Probleme schnell von selbst wieder verschwinden, stattdessen wird es immer wieder Tote geben, Zufallsopfer von Amokläufern, darunter auch Kinder. Und mit jedem weiteren Attentat wird der Zorn wachsen, wenn zugleich erkennbar weiterhin nichts getan wird, die Ursachen abzustellen. Dieser Zorn wird sich erwartbar in zwei Richtungen wenden: Erstens Ausländer, die mehrheitlich selbstverständlich nichts mit den Attentaten zu tun haben und davon nicht weniger abgestoßen sind als wir, und zweitens die Politiker der Altparteien, die sich einer Begrenzung der Zuwanderung und der Abschiebung illegaler Migranten verweigern. Und dieser Zorn wird irgendwann handgreiflich werden.

Hinzu kommt, dass sich die wirtschaftliche Lage in Deutschland immer weiter verschlechtert, was sich über kurz oder lang auch für den einzelnen Bürger bemerkbar machen wird. Zugleich bergen diverse längst beschlossene Gesetze tickende Zeitbomben, etwa der CO2-Zertifikathandel für Benzin und Heizöl ab 2027 oder das berüchtigte Heizungsgesetz, die zu Verteuerung, Verknappung und sozialen Härtefällen, ja regelrecht in den Ruin gestürzten Menschen führen werden. Das mögen in Zahlen nicht einmal viele sein, doch diese werden sich quer durch die Gesellschaft verteilen, darunter auch Menschen, die sich als hart arbeitende Mitte der Gesellschaft fühlen. Wenn die Regierung diese Mehrbelastung durchschnittlich durch ein „Klimageld“ ausgleicht, wird dieses vielleicht ausreichen, die Härtefälle vor dem Elend zu bewahren, wird es nicht genügen, das Gerechtigkeitsempfinden zu befriedigen. Noch ist der Unmut halbherzig; erst wenn diese Gesetze spürbar werden, kommt es zum Aufschrei.

Wie man es dreht und wendet: Unruhen liegen in der Luft. Von der einen Seite drohen selbsternannte Demokraten glaubwürdig mit einem Aufstand, falls die Politik was ändert. Auf der anderen Seite droht ein Aufstand, wenn die Politik nichts ändert. Dabei befinden sich die Parteien von CDU bis Grüne in einem besonderen Dilemma: Ganz überwiegend sind sie unmittelbar an der schlechten Lage schuld; schließlich regierten ausschließlich sie dieses Land und trafen all jene Entscheidungen, deren Auswirkungen wir nun spüren oder absehbar spüren werden. Änderung hieße Selbstkritik. Das ist schwer, gelingt nicht allen, und schon gleich garnicht allen gleichzeitig. So fehlt es unter diesen Parteien an einer Mehrheit, die zu Änderungen bereit wäre. Zugleich wurde der Ausweg, stattdessen mit anderen Parteien als CDU, CSU, SPD, FDP und Grünen zu koalieren, politisch blockiert (bei der CDU übrigens auch hinsichtlich Linkspartei und BSW); tun sie es doch, gibt es Ärger. Der wahrscheinlichste Entwicklung ist damit, dass die Dinge sich weiter hochschaukeln – auf die eine, oder die andere Weise.

Am 23.02.2025 wählt Deutschland einen neuen Bundestag, und im Endspurt vor der Wahl melde ich mich wie üblich wöchentlich zu Wort. Nachdem ich letzte Woche Bilanz der letzten Legislaturperiode gezogen habe, möchte ich nun die besonderen Umstände darlegen, unter denen Politik derzeit stattfindet.

In ruhigen Zeiten sind die Folgen einer Handlung absehbar: Auf eine wohlkalkulierte Provokation folgt ein Sturm im Wasserglas, die eigene Position rückt für einen Moment im Mittelpunkt und es gelingt, die eigene These in den Köpfen zu platzieren. Zugleich operieren alle Beteiligten in einem recht engen Handlungskorsett: Bricht man daraus aus und übertritt die geschriebenen oder ungeschriebenen Regeln, folgt eine Reaktion oder Sanktion, mit der sich das System selbst erhält (z.B. die Hohmann-Affäre 2003). In bewegten Zeiten ist das anders: Entwicklungen sind nicht mehr statisch und vorhersagbar, sondern können eine Eigendynamik entfalten. Die Akteure agieren unter echter Unsicherheit. Keine Provokation ist mehr kalkulierbar: es ist ebenso denkbar, dass garkeine Reaktion erfolgt, weil alle von anderem abgelenkt sind, oder nicht erst als Provokation wahrgeommen wird, wie, dass eine harmlos scheinende Bemerkung eine Lawine lostritt (z.B. Schabowskis Pressekonferenz 1989).

Ich halte es für die größte intellektuelle Schwäche des Menschen, dass wir strukturell nicht dazu in der Lage sind, dynamische Entwicklungen zu erfassen. Damit meine ich nicht, dass wir sie nicht nachvollziehen könnten – Selbstverständlich können wir im Nachhinein eine Entwicklung beschreiben und uns zurecht rationalisieren, ja sogar durchaus erfolgreich ihre Ursachen und Treiber analysieren. Das ist die Arbeit von Historikern. Mit Erfassen meine ich, eine solche Dynamik bereits während ihrer Entwicklung zu erkennen und ihre Tragweite und ihren Ausgang abzuschätzen. John Maynard Keynes fasste es in seiner unnachahmlichen Art so zusammen: „We simply do not know“ (The General Theory of Employment, 1937). Zwar gab es immer wieder Beispiele, in denen einzelne Menschen große weltgeschichtliche Entwicklungen zutreffend ex-ante analysiert haben – etwa die Vorhersage des Zusammenbruchs der UdSSR durch Emmanuel Todd, oder die Bankenkrise von 2007 durch Max Otte – doch weder haben uns diese Personen eine generische Analysemethodik geliefert, noch konnten sie derartige Erfolge bislang wiederholen. Nein, diese Beispiele sind eher nicht der Beweis dafür, dass Menschen dynamische Entwicklungen intellektuell erfassen können, sondern sie hatten das Glück einer zutreffenden Intuition. Erst auf dieser Basis konnten sie mit ihrem Fachwissen Schlüsse ziehen, die sich später als zutreffend herausgestellt haben, während die Schlussfolgerungen vieler Anderer sich nicht bestätigten.

Warum die lange Vorrede? Ich denke, es besteht große Einigkeit darüber, dass wir in bewegten Zeiten leben. Wenn das aber so ist, dann stehen Eignung und Wert aller getätigten Lageeinschätzungen und Vorhersage ebenso in Zweifel, wie die Angemessenheit politischer Handlungen (von der Entscheidung des Wählers bei der Bundestagswahl bis zum Agieren eines Bundeskanzlers), die von der Annahme ausgehen, dass die Mechanismen des politischen Systems so wirken, wie wir es gewohnt sind.

Omnipräsent sind die Warnungen vor einem Erstarken der AfD, die zunehmend so klingen, als stünde die Machtübernahme kurz bevor. Auf den ersten Blick wirkt das geradezu lachhaft angesichts von Wahlumfragen, die der AfD derzeit etwa ein Fünftel der Stimmen verheißen. Selbst in Thürigen, wo die AfD ihr stärkstes Ergebnis eingefahren hat, ist sie mit 33% weit von einer eigenen Mehrheit entfernt. Wenn die Journalisten und Altparteien nun also warnen, dass die AfD politische Mehrheiten erlangen könnte, bevor es passiert ist, haben wir hier nicht möglicherweise den Beweis, dass diese Leute eben doch die dynamische Entwicklung des Phänomens „AfD“ erfasst haben? Mitnichten.

Die Altparteien können zwar noch immer mit großen Mehrheiten den Bund und alle Länder regieren, doch inzwischen Bedarf es hierzu einer Kooperation aller (Thüringen), oder fast aller (Rest) anderen Parteien. Als Verstärker fungiert das lange beschworene „Zusammenstehen gegen die AfD“, bzw. die „Brandmauer“; ein Kartell der Altparteien, das dazu führt, dass selbst dort, wo formell auch noch Altparteien Teil der Opposition sind, diese die jeweilige Regierungspolitik in ihrem Kern stützen. Es verschwindet damit die Binnendifferenzierung innerhalb der Altparteien, wodurch die Parteien außerhalb des Kartells – also i.W. die AfD – zur einzigen Option für einen Wähler wird, der mit der Regierungspolitik oder ihrem bescheidenen Ergebnis unzufrieden ist. Es ist damit also womöglich der Kipppunkt längst überschritten, ab dem die Entwicklung der AfD sich selbst trägt. Die Brandmauer ist dabei das Paradebeispiel für einen Mechanismus, der in ruhigen Zeiten als Sanktion für Grenzüberschreitungen das System erhält, während er es in der längst eingetretenen Lage schädigt. Wer das Konzept „Brandmauer“ jetzt als ein geeignetes Rezept zur Bekämpfung der AfD preist, ist sicherlich nicht auf der Höhe der Dinge – und das sind erschreckend viele derzeit.

Heißt das, dass die AfD mittelfristig die Regierung anführen wird? „We simply do not know.“ Allerlei Ereignisse sind denkbar, die die politischen Verhältnisse wesentlich zuungunsten der AfD verändern können. Die Altparteien und ihre Anhängerschaft haben allerdings keine Steuerungsmittel mehr an der Hand, die AfD kontrolliert zu bekämpfen.

Eine größere Gruppe von Politikern betreibt unter großer medialer Anteilnahme seit geraumer Zeit die Einleitung eines AfD-Verbotsverfahrens. Wissen die eigentlich, was sie tun? Unter den gegenwärtigen Umständen können sie die Folgen ihres Treibens überhaupt nicht seriös absehen. Wie stellen diese Leute eigentlich sicher, dass ein solches Verbotsverfahren nicht zu einem Bürgerkrieg statt einer Dezimierung der AfD führt? Oder agieren diese Politiker im Glauben, dass sie einen solchen Bürgerkrieg unter Zuhilfenahme der ihnen derzeit gegebenen staatlichen Machtmittel gewinnen würden? Das wäre ebenso zynisch wie gefährlich, denn auch diese Kalkulation lässt sich gegenwärtig nicht sicher anstellen. Haben sie die Sache überhaupt unter Kontrolle, d.h. wäre ein Abbruch oder Scheitern des Verbotsverfahrens überhaupt für die eigene Anhängerschaft akzeptierbar, nachdem sie bereits die Behauptung der Verfassungsfeindlichkeit der AfD wie ein Faktum tief in die Köpfe ihre Anhängerschaft gehämmert haben? Ja, auch ein Scheitern eines Verbotsverfahrens könnte in Gewalt enden; immerhin führte voriges Jahr bereits ein Video betrunken grölender Partygäste auf Sylt zu Eruptionen von kollektivem Hass und Massendemonstrationen, die sich gegen die AfD richteten – mithin einer Vorstufe eines Bürgerkriegs. Dazu ein anderes Mal mehr.

Ist das ein Plädoyer für Untätigkeit oder dagegen, politische Risiken einzugehen? Ein Plädoyer, sich wie das Kaninchen im Angesicht der Schlange zu verhalten? Nein! Es ist ein Plädoyer für verantwortungsbewusstes Agieren. Das heißt, Probleme zu erkennen, benennen und mit Maßnahmen anzugehen, die erkennbar zu einer Besserung der Lage beitragen. Friedrich Merz hat insoweit in der vergangenen Woche verantwortungsvoll gehandelt, indem er notwendige Maßnahmen zur Abstimmung gebracht hat, obwohl er damit ein politisches Risiko eingegangen ist. Wer jedoch heute politisches 4D-Schach spielt, und lieber taktiert als offen agiert, handelt verantwortungslos, denn er weiß nicht, was er anrichtet.

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