PKEuS' Blog

über Welt-, Politik- und Wirtschaftsgeschehen

Am 26.09.2021 wählt Deutschland einen neuen Bundestag, und im Endspurt vor der Wahl melde ich mich wie üblich wöchentlich zu Wort. Nachdem ich letzte Woche die Veränderung unseres Staates in einen historischen Kontext gesetzt habe, möchte ich in diesem Aufsatz die These begründen, dass sich unsere bisherige Gesellschaftsordnung in Auflösung befindet.

Wiederkehrende Angriffe auf unsere Gesellschafts- und Verfassungsordnung, auf Bürgerrechte, Freiheitsrechte, Sozialstaat, Frieden und vieles mehr – das sind wir seit Jahrzehnten gewohnt. Ebenso, dass diese Angriffe von unseren eigenen Regierungspolitikern ausgehen. Über lange Zeit sind die Verteidiger unserer Gesellschaft – martialisch formuliert – in zermürbenden Rückzugsgefechten in kleinen Schritten zurückgedrängt worden. Dabei konnten Verteidiger der Grundrechte stets auf breite gesellschaftliche Unterstützung bauen: Die Proteste gegen Voratsdatenpeicherung, den biometrischwen Personalausweis, den Irakkrieg, die Hartz-IV-Gesetze, Internetsperren („Zensursula“) waren nicht immer erfolgreich, aber trafen auf einen Nerv und hatten immer eine große gesellschaftliche Wirkung.

Neu ist jedoch, dass die Bürgerrechtler zum ersten Mal seit 1945 in Deutschland am Rande einer totalen Niederlage stehen. Neu ist das dröhnende Schweigen zu Grundrechtseingriffen, die seit der Coronakrise in neuer Dimension durchgesetzt wurden. Seit siebzehn Monaten besteht in Deutschland eine „epidemische Lage von nationaler Tragweite“, seither wurden in Deutschland hunderte Gesetze und Verordnungen erlassen, mit denen massive Beschränkungen unserer Bürger- und Freiheitsrechte umgesetzt wurden. Mit Corona sind alle Dämme gebrochen, und es scheint, als hätten die Bürgerrechtler den Kampf schon aufgegeben.

So wie sich die Schlagzahl der Angriffe auf die Bürgerrechte regelrecht exponentiell erhöht hat, haben sich auch gesellschaftliche Veränderungen beschleunigt, die seit Jahren bereits im Gange sind. Mit Corona offenbart sich beispielsweise, wie sehr sich unsere Wahrnehmung und unser Umgang mit Risiken verschoben hat. Früher war es allgemeines Lebensrisiko, dass man sich zuweilen irgendwo eine Infektion einfing, die, je nach Art des Virus, eigener Konstitution und Zufall, fast immer harmlos, aber zuweilen auch ernsthafter verlaufen konnte. Dieses Risiko wurde in Kauf genommen: Von wenigen besonders gefährdeten Menschen abgesehen, trug man in der westlichen Welt keine Masken, weder zum Eigenschutz, noch erwartete man das von seiner Umgebung. Heute höre ich von vielen Menschen, dass man sich wünsche, die Maskenpflicht im ÖPNV oder im Supermarkt doch bitte auch nach Corona beizubehalten. Das, was früher allgemeines Lebensrisiko war, sind viele Menschen heute nicht mehr bereit, in Kauf zu nehmen. Eine schleichende Veränderung unserer Risikowahrnehmung zeigte sich allerdings schon lange, etwa in den ausufernden Sicherheitsvorschriften für alles Mögliche, oder auch in der sinkenden Bereitschaft von Eltern, ihre Kinder alleine und unbeaufsichtigt auf den Schulweg zu schicken.

In dem Wunsch nach fortgesetzten Schutzmaßnahmen vor dem Virus zeigt sich allerdings noch etwas anderes: Aus dem früheren Anspruch auf gute Gesundheitsversorgung im Krankheitsfall ist ein Anspruch auf gute Gesundheit geworden. Das klingt unscheinbar, ist jedoch in Wahrheit ein Zivilisationsbruch. Steht der Anspruch auf Gesundheitsversorgung in der klassischen Tradition des Sozialstaats, steht ein Anspruch auf Gesundheit in überhaupt keiner hiesigen Tradition. Es ist vielmehr ein Ausdruck der Abkehr von der christlichen Prägung unseres Menschenbildes, dass der Vorstellung entspringt, das Leben sei von Gott gegeben, und werde von Gott genommen. Dieser Vorstellung steht ein empfundener Anspruch auf ein langes Leben diametral gegenüber, wäre es doch der Anspruch eines Menschen gegenüber Gott. Man mag das gut oder schlecht finden, aber neutral betrachtet zeigt sich einmal mehr, ebenso wie z.B. schon in Debatten über die „Ehe für Alle“, dass die Abkehr vom christlichen Erbe unserer Gesellschaft über den bloßen Zerfall der kirchlichen Institutionen hinausreicht.

Schon vor drei Jahren hatte ich Zerfall der Diskurskultur in Deutschland beklagt: „Affekte ersetzen Argumente, Stimmungsmache ersetzt Meinungsbildung und bestehende Auffassungen von Gerechtigkeit und Rechtsstaatlichkeit werden von publizistischer Selbstjustiz, begangen von Menschen mit absolutistischen Vorstellungen ihrer eigenen Moralvorstellungen, ersetzt.“ All das konnten wir während Corona wieder beobachten, nur in gesteigerter Intensität: Eine Meute von gefühlten 95 % der Medien und zwei Dritteln der Bevölkerung fiel über jeden her, der ohne Maske gesichtet wurde, an der Allgemeingefährlichkeit des Virus gezweifelt hat, sorgen ob der Wirksamkeit oder Sicherheit der Imfpung geäußert hat, oder gar die Maßnahmen wie Lockdowns oder Maskenpflicht für unsinnig oder unverhältnismäßig hielt. Erst wurden ab 2010 die Kritiker des Euro an den Rand der Gesellschaft gedrängt: Sie seien ewiggestrige Antieuropäer. Daraus gründete sich die AfD. Dann wurden 2015 die Kritiker von „Refugees Welcome“ geächtet: Wer auch nur leise Kritik oder Besorgnis äußerte, war ein Fremdenfeind. Die AfD verdoppelte ihr Wählerpotential. 2020 wurden nun die Gegner der Coronamaßnahmen zu unsolidarischen „Covidioten“. Parallel wurden noch einige einzelne vermeintliche „Rassisten“ auf den medialen Scheiterhaufen verbrannt. In gut 10 Jahren wurden drei sicherlich überlappende, aber definitiv nicht identische Bevölkerungsgruppen von der Mehrheitsgesellschaft und den Medien mit bemerkenswertem Furor zu Aussätzigen erklärt.

Das gesteigerte Verlangen nach Schutz vor Risiken geht eine unheilvolle Symbiose ein mit dem Drang der Herrschenden, die Bevölkerung zu überwachen und unterdrücken: Dieselben Maßnahmen, die die Bürgerrechte faktisch außer Kraft setzen, werden mit dem Schutzverlangen der Bürger begründet. Anscheinend haben die Herrschenden gelernt, mit den neuen Kommunikationsmedien so umzugehen, dass die Massen ihnen folgen: Angestachelt von den hochfrequenten modernen Netzmedien, beklatscht die Masse, wie ihre eigenen Rechte beseitigt werden. Hatte sich der Volkszorn vorher oft für eine gerechte Sache eingesetzt, tanzt er jetzt nach der Pfeife der Eliten. Weil sich die Eliten, Medien und Bürger in ihrer selbstgebuten Echokammer inzwischen widersprechende Fakten ausblenden und sich stattdessen gegenseitig in ihrem Weltbild bestärken, ist der gesellschaftliche Kipppunkt damit schon überschritten. Dabei produziert unsere Gesellschaft immer wieder politische Aussätzige. Kurz- und mittelfristig bestärkt das die Masse sogar in ihrer Haltung; ein gemeinsamer „Feind“ hält das Schiff auf Kurs. Langfristig aber steuern wir auf einen politischen Kipppunkt zu, an dem die Mehrheitsgesellschaft zur Minderheit wird, und die Aussätzigen anfangen, untereinander Bündnisse einzugehen.

Gegenwart