Der Gesetzgebungsnotstand
Vermutlich dämmert inzwischen sogar innerhalb der Regierung manchem, dass die Ampelkoalition ihren Aufgaben nicht gewachsen ist und vielleicht auch nie eine gute Idee war – wahrscheinlich vor allem der FDP. Dass die Koalition diesen Winter überlebt, glaube ich eher nicht. Aber wer glaubt, dass dann Olaf Scholz mit seiner Regierungsbande verschwinden würde, könnte sich täuschen. Kannten Sie schon Artikel 81 des Grundgesetzes? Wenn nein, ist das ein gutes Zeichen. Ich kannte den bis neulich auch nicht, und wenn wir Glück haben, kennt ihn auch Olaf Scholz nicht.
Wenn die Koalition platzt, bliebe Scholz weiterhin Kanzler, bis ein Neuer gewählt wird (Artikel 67). Dass die Parteien sich zeitnah auf eine neue Koalition einigen, wäre aber aktuell nicht sicher: Als CDU würde ich mich nicht auf eine Juniorpartnerschaft mit der SPD einlassen, wo Umfragen aktuell vielversprechend sind. Umgekehrt würde ich auch als SPD keinen CDU-Kanzler dulden, solange man die stärkere Fraktion stellt. Und dass man Grüne und FDP aktuell wieder in eine Regierung zusammen kriegt? Unwahrscheinlich, falls diese Kombination den Bruch erst ausgelöst hat. Als CDU würde ich Neuwahlen wollen, als SPD sie fürchten. Also bleibt Scholz erstmal Kanzler, und abtrünnige Minister kann er auch problemlos austauschen (wie Helmut Schmidt 1982).
Doch wenn Scholz Gesetze durchs Parlament bringen will und die Fraktionen sich sperren, dann könnte er Artikel 81 aus dem Hut ziehen: Den Gesetzgebungsnotstand. Scholz stellt die Vertrauensfrage, die er natürlich verliert. Anstatt nun nach Artikel 68 Neuwahlen anzustreben, einigt er sich mit dem Bundespräsidenten, dass ein Gesetzgebungsnotstand bestehe. Steinmeier und Scholz sind vom gleichen Schlag und von der gleichen Partei, und Steinmeier würde, wenn er sich darauf einließe, nicht einmal gegen das Grundgesetz verstoßen – bloß gegen den Geist, in dem es bisher gelebt wurde (was ihm nach meiner Einschätzung egal sein dürfte). Der SPD bliebe eine Niederlage bei einer Neuwahl, und Scholz der Verlust des Amtes erstmal erspart.
Sodann benötigt er für höchstens 6 Monate nur noch die Zustimmung des Bundesrates für seine Vorhaben. Und der Bundesrat tut erfahrungsgemäß alles, wenn man ihm eine schöne vergoldete Karotte vor die Nase hält, nämlich kontroverse Gesetze mit Finanzzusagen an die Länder kombiniert. Scholz und seine Bande gewinnen damit 6 Monate, in denen er hoffen kann, dass die Schrecken des Winters im Gedächtnis verblassen und die Leute wieder auf die Idee kommen, SPD zu wählen. Nach allen bisherigen Erfahrungen mit den deutschen Wählern nicht ganz unrealistisch. Alles in allem wäre Artikel 81 für die aktuelle Bundesregierung bei einem Bruch der Koalition im Winter eine attraktive Option. Der einzige Haken ist das Risiko, dass die Öffentlichkeit daran Anstoß nimmt und ihn daraufhin zum Abtreten zwingt. Doch die Möglichkeit eines Abgangs ist gegenüber einem definitivem Abgang die taktisch bessere Option.