Zur Wahl 2017 (I) – Bilanz der großen Koalition
Am 24.09.2017 wählt Deutschland einen neuen Bundestag. Im Endspurt vor der Wahl werde ich mich (wie schon 2013) wöchentlich zu Wort melden, Bilanz der ablaufenden Legislaturperiode ziehen und einen Ausblick auf die Wahl und die Zeit danach geben. Ihren Auftakt nimmt diese Artikelserie mit einer Bilanz der Regierungsarbeit der großen Koalition.
Nach der letzten Wahl formierte sich nach kurzem Überlegen der Kanzlerin über die Option Schwarz-Grün eine große Koalition aus CDU und SPD. Die CDU, die fast eine absolute Mehrheit errungen hat, ging siegestrunken in die Koalitionsverhandlungen, während die SPD mit einem erneut schlechten Ergebnis und der katastrophalen Erfahrung aus der vorigen großen Koalition von 2005 bis 2009 unter Druck stand, erfolgreich aus den Verhandlungen hervor zu gehen. Erst nach einer Abstimmung in der SPD über den Koalitionsvertrag, der vielfach als Erfolg der SPD beschrieben wurde, bildete sich die Koalition schließlich.
Kanzlerin Angela Merkel begann ihre inzwischen dritte Amtszeit unangefochten und konkurrenzlos, obgleich es Gerüchte gab, dass sie selbst keine vierte Amtszeit anstrebe und damit Diskussionen um den Aufbau eines Nachfolgers aufkamen. Nun tritt sie doch für eine vierte Amtszeit an, was angesichts des phasenweise desaströsen Verlaufs dieser Amtszeit zwischenzeitlich nicht immer sicher schien. Ihre Koalition entpuppte sich angesichts des Zustands der SPD und des Drucks der AfD auf die Union als kompliziert, und in der erneut eskalierten Eurokrise und der Flüchtlingskrise zeigten sich die Flurschäden, die in den vergangenen 8 Jahren unter ihr selbst angerichtet wurden. Politisch ist die Kanzlerin zwar so mächtig wie eh und je, doch ist ihrer Bundesregierung das Heft des Handelns in vielen entscheidenden Sachfragen vollkommen entglitten: In der Eurokrise behielt sie zwar die politische Oberhand, dies gelang jedoch nur auf Kosten der Zerstörung der europäischen Zusammenarbeit. Dies offenbarte sich dann in der Flüchtlingskrise, die über eine anscheinend völlig unvorbereitete Bundesregierung hereinbrach, nachdem Merkel in dem Versuch, sich als europäische Mutter Theresa zu inszenieren, unabgesprochen die Grenzen öffnete und damit die Zuwanderungswelle so verschärfte, dass das Schengen-Abkommen in Europa kollabierte. Eine Einigung über einen kooperativen Umgang mit den Flüchtlingen in der EU gelang der Bundesregierung angesichts der von ihr selbst zerstörten europäischen Solidarität nicht, sodass die Regierung in erhebliche Bedrängnis geriet: Die mit dem Andrang völlig überforderten kommunalen Verwaltungen mussten große Teile ihrer Kapazitäten für die Flüchtlingskrise opfern und Teile der öffentlichen Infrastruktur dafür in Beschlag nehmen. Eine Welle neuer Ausländerfeindlichkeit schwappt seither durch Deutschland: Flüchtlingsheime brannten und gewaltige regelmäßige Demos von rechten Gruppierungen haben sich organisiert. Die Kanzlerin geriet unter starken Beschuss aus den eigenen Reihen, insbesondere der CSU, während Parteien von links sie teilweise für ihre Flüchtlingspolitik in Schutz nahmen. Damit hat sie es zwar geschafft, dass diese linken Parteien sich selbst den Wind aus den Segeln genommen haben, es entstand jedoch die Gefahr eines Putsches aus den eigenen Reihen. Schließlich zwang die Entwicklung der Krise, die sie selbst mit entfacht hat, sie dazu, einen höchst fragwürdigen Handel mit der immer autokratischer werdenden Türkei einzugehen, die Europa die Flüchtlinge abnehmen soll. Damit handelte sie sich parteiübergreifende Kritik ein, die im Böhmermann-Eklat mündete: Um den Deal zu retten, ließ sie sich dazu hinreißen, die Satire Jan Böhmermanns öffentlich in Erdogans Sinne zu kommentieren, was die Kritik an dem Türkei-Abkommen vervielfachte. Die Krise mit der Türkei eskaliert seither munter weiter, auch weil die Bundesregierung um das Flüchtlingsabkommen bangt, wenn sie die Konfrontation mit Erdogan sucht.
Sigmar Gabriel (SPD) wollte Wirtschaftsminister werden, also wurde er es. Große Würfe gelangen dem Minister, der mehr mit seiner Arbeit als SPD-Vorsitzender beschäftigt war als mit seinen Aufgaben als Wirtschaftsminister, nicht, obwohl angesichs von Stagnation und Eurokrise gerade große wirtschaftspolitisch Weichenstellungen Gabriels dringendste Aufgabe gewesen wären. Während er es in den entscheidenden Fragen nie schaffte, sich gegen Finanzminister Schäuble durchzusetzen, walzte Gabriel mit seiner Ministererlaubnis für die Übernahme von Tengelmann durch Edeka die Bedenken sämtlicher Fachleute beiseite, provozierte den Rücktritt des Vorsitzenden der Monopolkommission und half damit sogar bei Oligopolisierung der deutschen Wirtschaft mit, die zu Verhindern seine Aufgabe gewesen wäre. Schließlich wurde die Fusion von Gerichten doch noch verhindert, Tengelmann am grünen Tisch filetiert und der Minister war vollends blamiert. Schließlich gab Gabriel Anfang 2017 den Parteivorsitz auf und wechselte ins Außenministerium. Nachfolgerin wurde Gabriels Staatssekretärin Brigitte Zypries, die keine Akzente mehr setzen konnte.
Wolfgang Schäuble (CDU) blieb Finanzminister, da SPD-Parteichef Gabriel beschlossen hatte, lieber Wirtschaftsminister zu werden. Diese Entscheidung stellte sich für die SPD als verheerender Fehler heraus, da es Schäuble als Finanzminister möglich war, sein Projekt der „schwarzen Null“ durchzudrücken und in der Griechenlandkrise rücksichtslos die griechische Regierung zu erpressen. Die „schwarze Null“ ist tatsächlich Realität geworden, was einerseits dem Umstand geschuldet ist, dass Deutschland mit seinen Exportüberschüssen in gigantische Ausmaß auf die Schulden des Auslands baut, und auf Schäubles rigoroser Ablehnung jedes Ausgabenversuchs anderer Ministerien. Minister Schäubles Bilanz gleicht einer Schneise der Verwüstung: Die Eurozone ist endgültig ruiniert (auch wenn der abschließende Kollaps noch aussteht), die Infrastruktur in Deutschland verrottete weitere vier Jahre und die Binnenwirtschaft stagnierte.
Frank-Walter Steinmeier, gescheiterter SPD-Spitzenkandidat von 2009 und damaliger Außenminister, wurde erneut in dieses Amt berufen. In seiner Amtszeit militarisierte sich die deutsche Außenpolitik weiter. Zwar gelang es dem Minister durchaus, in der Ukrainekrise vermittelnd einzugreifen, dafür hat die Regierung es fertiggebracht, in Mali an der Seite Frankreichs und in Syrien an der Seite einer bizarren Koalition der Nato mit Saudi-Arabien zur Kriegspartei zu werden. Darüber hinaus beteiligte man sich an der Sanktionspolitik gegenüber Russland. Zu Gute halten kann man Steinmeier jedoch, dass er schließlich doch versuchte, die anderen Weststaaten von weiteren Provokationen gegen Russland abzuhalten. 2017 wurde er dann zum Bundespräsidenten gewählt und von Sigmar Gabriel abgelöst, der dann für ein paar Wochen aus gutem Grund verbal gegen Erdogans Türkei austeilen durfte.
Justizminister Heiko Maas (SPD) ging als Gegner der Vorratsdatenspeicherung ins Kabinett, um das Erbe Sabine Leutheusser-Schnarrenbergers dann in einer beispiellosen Kehrtwende zu verraten und die Vorratsdatenspeicherung schon wieder umzusetzen, obwohl das Verfassungsgericht sie bereits mehrfach für ungültig erklärt hatte und obwohl kurz zuvor sogar die EU-Richtline zur Vorratsdatenspeicherung vom europäischen Gerichtshof gekippt wurde. Doch was interessieren einen Justizminister Recht und (Grund-)Gesetz, wenn der eigene Parteichef nach einem Terroranschlag in Paris kollektives in-Panik-ausbrechen anordnet? Außerdem initiierte das Justizministerium das Netzdurchsuchungsgesetz und mogelte eine Verschärfung der Online-Durchsuchung in die Strafprozessordnung. Nebenbei brachte sich der „bestangezogene Mann Deutschlands 2016“ mit der Landesverrats-Affäre in Schwierigkeiten, als er erst zuließ, dass der Generalbundesanwalt gegen Netzpolitik.org wegen Landesverrats ermittelt, diesen dann aber anwies, ein dazu vom BND erstelltes Gefälligkeitsgutachten nicht zu veröffentlichen. Wahrscheinlich enthalten die Maßanzüge des Ministers ein Korsett, um das fehlende Rückrat des Mannes zu ersetzen.
Verkehrsminister wurde Alexander Dobrindt (CSU), der das Kernprojekt der CSU, die „Ausländer-Maut“, umsetzen sollte. Dies gelang ihm, wie alle vorher wussten, nicht, da diese Maut schlichtweg nicht europarechtskonform ist. Anstatt die Klugheit zu besitzen, die Maut still und leise in der Mottenkiste verschwinden zu lassen, fuhr er so geräuschvoll vor die Wand, dass er und sein Amt für den Rest der Legislaturperiode beschädigt waren. Der Minister hat es außerdem versäumt, die Führung der Deutschen Bahn zur Ordnung zu rufen, als diese einen Lokführerstreik eskalieren ließ oder überzogene Sparmaßnahmen ankündigte, die allen verkehrspolitischen Zielen zur Förderung des Schienenverkehrs widersprechen. Auch versäumte es das Verkehrsministerium, dem Treiben des früheren Kanzleramtsministers Pofalla (CDU) Einhalt zu gebieten, der reihenweise kompetente Führungskräfte der DB durch eigene Leute ersetzte. Und schließlich verhinderte er persönlich in der VW-Abgasaffäre, dass VW seinen deutschen Kunden gegenüber hätte schadenersatzpflichtig werden können und protegierte die dieselbauende und betrügende deutsche Automobilindustrie, wo er nur konnte.
Andrea Nahles, einer nicht im engeren Sinne symphatischen SPD-Netzwerkerin, vertraute man das Arbeits- und Sozialministerium an. Tatsächlich muss man ihr zugestehen, dass sie, deren Amtszeit Licht und Schatten aufweist, zu den positiveren Erscheinungen des Kabinetts zählt. So setzte sie den von der SPD versprochenen Mindestlohn und die Rente mit 63 ab 45 Beitragsjahren um. Zwar ist weder der Mindestlohn angemessen hoch oder hinreichend schlupflochfrei, noch ist die Rente mit 63 der konzeptionell richtige Weg, das Rentensystem zu retten; dennoch tragen beide dazu bei, ein paar der unter Gerhard Schröder angerichteten Schäden zu reparieren. Auf der anderen Seite zeichnet sich Nahles verantwortlich für das Tarifeinheitsgesetz, das den GDL-Streik von 2015 provoziert hat, arbeitnehmerfeindlich und an der Grenze zur Verfassungswidrigkeit ist. Mit dieser Maßnahme zur Schwächung der Gewerkschaften schlug Nahles einen weiteren Nagel in den Sarg des Euros und konterkariert den Effekt des Mindestlohns auf das Lohnniveau.
Thomas de Maizière (CDU) wurde diesmal wieder Innenminister, nachdem er vorige Legislatur für zwei Jahre ins Verteidigungsministerium gewechselt war. Geradezu zum geflügelten Wort wurde seine Ausrede, „ein Teil dieser Antworten würde die Bevölkerung verunsichern“, um keine konkreten Gründe für die spontane Absage eines Fußballländerspiels in Hannover nennen zu müssen. Insgesamt schloss sich der Minister damit der Terrorpanikmache der Bundesregierung und der Medien an, ganz im Gegensatz zu seiner ersten Innenminister-Amtszeit. Nebenbei war sein Ministerium für die Bewältigung des Flüchtlingszustroms zuständig – und versagte kläglich. So kläglich, dass schließlich der Kanzleramtsminister diese Aufgabe übernehmen musste. Dennoch befasste sich de Maizière weiter mit dem Flüchtlingsthema, so verstieg er sich etwa zu der Behauptung, Teile von Afghanistan seien ein sicheres Herkunftsland – das gleiche Land, in das er selbst nur mit schusssicherer Weste reiste und in dem die Bundeswehr noch immer Krieg führt.
Für Umwelt und Bauen wurde Barbara Hendricks (SPD) zuständig. Während sie als Bauministerin die wirkungslose Mietpreisbremse konstruierte und ansonsten für diesen Teil ihres Ressorts Begeisterung zeigte, saß sie in Umweltfragen gegenüber Parteichef und Wirtschaftsminister Gabriel stets am kürzeren Hebel. Ihre Tränen auf dem Pariser Klimagipfel (angesichts des Erfolgs, überhaupt ein Abkommen erzielt zu haben) in Ehren, aber sie hätte mehr für den Umweltschutz erreichen können. Selbst den skandalösen „Dieselgipfel“ hat sie einfach über sich und ihr Ressort ergehen lassen, um das vereinbarte hinterher als „unzureichend“ zu bezeichnen.
Ursula von der Leyen (CDU) wurde dieses mal ins Verteidigungsministerium geschickt, in dem Korruption und Unfähigkeit das Beschaffungswesen lahmlegten. Der Ministerin gelang es nicht, Ruhe oder gar Ordnung in ihr Haus zu bringen. Vielmehr blubberten zusätzliche Skandale hoch, etwa der um die Einsatzuntauglichkeit des Sturmgewehrs G36, einem Marinehubschrauber, der nicht über See fliegen kann, oder weitere Verzögerungen und Pannen beim Transporter A400M. Stattdessen schaffte von der Leyen mit Diskussionen um eine „familienfreundliche Bundeswehr“ neue Nebenkriegsschauplätze und holte sich Beraterfirmen ins Haus und ernannte sogar eine frühere Mitarbeiterin von McKinsey zur Staatssekretärin. Damit hat sie den Sumpf, den sie hätte trockenlegen sollen, noch vergrößert. Schließlich tauchte in der Bundeswehr noch ein diffuses rechtsradikales Terrornetz auf, dessen Aushebung die Ministerin öffentlichkeitswirksam inszenierte, was Teile der Truppe endgültig gegen die Ministerin aufbrachte.
Ein kurzes Interemezzo im Landwirtschaftsministerium hatte Hans-Peter Friedrich (CSU), der in der vorigen Koalition noch als Innenminister sein Unwesen treiben konnte. Nach der Geheimnisverrats-Affäre um den Fall Edathy trat er zurück. Sein Nachfolger Christian Schmidt (CSU) hinterließ uns nicht mehr als den Spruch „an Apple a day keeps Putin away“ – sein Vorschlag, wie man die mit den Russland-Sanktionen entstandenen Probleme im Apfelexport überwinden könne. Das Entwicklungshilfeministerium wurde dem CSU-Politiker Gerd Müller unterstellt. Sein Alleinstellungsmerkmal unter den Kabinettskollegen ist, dass ihm selbst von der Opposition Fachkenntnis attestiert wird. Wirkliche Bedeutung hatte das Ministerium jedoch auch in dieser Legislatur nicht, trotz der Flüchtlingskrise. Aber da war es für Fluchtursachenbekämpfung, gewissermaßen eine Kernaufgabe dieses Ministeriums, eh zu spät. Familienministerin Manuela Schwesig (SPD), für die kurz vor dem Ende der Legislaturperiode rückte Katarina Barley nachrückte, da Schwesig Ministerpräsidentin in Schleswig-Holstein wurde, Gesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) und Bildungsministerin Johanna Wanka fielen hauptsächlich dadurch auf, dass sie unauffällig blieben. Das Kanzleramt schließlich übernahm Peter Altmaier (CDU). Ihm unterliefen keine Ausfälle im Stil seines Vorgängers Pofalla, dafür übernahm er in der Flüchtlingskrise die Funktion des „Flüchtlingskoordinators“, als die Dinge aus dem Ruder liefen. Auch diese Aufgabe bewältigte er, soweit es möglich war, geräuschlos. Insgesamt dürfte er seine Rolle als Strippenzieher im Auftrag der Kanzlerin gut gespielt haben.
Wieder steht am Ende einer Legislaturperiode ein Versagen auf ganzer Linie. Die Eurozone ist zerstört, die soziale Schieflage in Deutschland nicht korrigiert, die Verkehrspolitik hat den Schienenverkehr vor die Wand gefahren, die Außenpolitik suchte neue Konfrontation, die Kanzlerin hat sich in die Abhängigkeit von einem türkischen Despoten begeben, in der Bundeswehr blüht die Korruption und aus Anlass des IS-Terrors höhlte man Grundrecht um Grundrecht aus – all das können die wenigen positiven Ausreißer wie der Mindestlohn auch nicht mehr verdecken. Chapeau, Frau Merkel! Bravo, CDU, CSU und SPD! Ein Hoch auf unsere Einheitsparteien!