PKEuS' Blog

über Welt-, Politik- und Wirtschaftsgeschehen

Der öffentliche Verkehr leidet unter Staus, Lärm, Überfüllung, fehlender regionaler Anbindung, Unzuverlässigkeit und diversen weiteren Problemen. In der Serie „Verkehrspolitik“ möchte ich diese näher untersuchen und Vorschläge machen, wie sie in den Griff zu kriegen sind. Nach der einführenden Darlegung der Kernprobleme und der Analyse der Fehlsteuerungen soll nun die Landflucht als ein Ursachenkomplex der Probleme genauer beleuchtet werden und deren Wechselwirkung mit der Politik analysiert werden.

Eigentlich wird Landflucht eher mit Schwellen- und Entwicklungsländern in Verbindung gebracht, in denen die Transformation von einer Agrargesellschaft hin zu einer Industrie- oder Dienstleistungsgesellschaft noch im Gange ist. In Deutschland ist der Anteil des primären Sektors am Arbeitsmarkt seit Jahrzehnten im einstelligen Prozentbereich (2012: 1,6 %). Man könnte sogar vermuten, dass zunehmende Sehnsucht nach einem „Leben auf dem Land“ und nach Nähe zur Natur einen gegenteiligen Prozess in Gang setzt. Für diese Sehnsucht geben Zahlen wie die Millionenauflagen einschlägiger Zeitschriften durchaus Anhaltspunkte. Tatsächlich jedoch hat sich die Landflucht auf gleiche und andere Art auch in der jüngeren Vergangenheit in Deutschland fortgesetzt. Einerseits hat die deutsche Einheit eine Art Völkerwanderung von Ost nach West ausgelöst, die zur der Entvölkerung nicht nur der Dörfer sondern auch der früheren Metropolregionen Ostdeutschlands führte. Dies ist zwar ein Sondereffekt, der durch die Wiedervereinigung ausgelöst wurde, hat aber nicht zu einem Ausgleich der Bevölkerungsdichte zwischen Ost und West, sondern zur Entstehung eines drastischen Ungleichgewichts geführt. Andererseits gesellt sich zu dieser klassischen Landflucht ein Effekt der Zentralisierung des öffentlichen Lebens. Lokale Versorgung verliert an Bedeutung (und wird schließlich durch das Sterben des Einzelhandels auch unmöglich), stattdessen konzentrieren sich Arbeit, Versorgung und Unterhaltung immer stärker auf große regionale Zentren. Lokale Angebote verlieren an Bedeutung und verschwinden (selbst aus den gut bevölkerten Vororten der Metropolen) und entstehen an zentralen Orten neu. Damit geht einher, dass vielleicht nicht der Wohnort, aber der Lebensmittelpunkt sich von der lokalen Umgebung entfernt und in die Großstädte verschiebt. Es handelt sich also gewissermaßen um eine Zergliederung der Funktionen einer Stadt, also einer räumlichen Trennung ihrer Wohn-, Unterhaltungs- und Versorgungsfunktion.

Die klassische Landflucht vergrößert nicht die Wege, die zurückzulegen sind, sondern konzentriert sie auf die Großstädte. Die Wegstrecken ansich verkürzen sich u.U. vielmehr, wenn Wohnort näher an Arbeitsplatz, Geschäfte und Unterhaltungszentren rücken. Die Landflucht der Versorger konzentriert die Wege aber nicht nur weiter, sondern verlängert sie auch noch. Etwaige Vorteile der klassischen Landflucht im Hinblick auf die Verkehrsproblematik werden damit egalisiert und die Nachteile verstärkt. Damit rückt der Verkehr erstens stärker in die engen Stadtzentren, während er dort verschwindet, wo Platz wäre, und zweitens nehmen Aufkommen und Wegstrecke zu, wenngleich die Zentralisierung – sofern zusätzliche Kapazitäten noch herstellbar sind und das ursprüngliche Mobilitätsverhalten zu heterogen war, um einen gut ausgelasteten öffentlichen Verkehr zu organisieren – Vorteile hat im Hinblick auf die Möglichkeiten, den Individualvehr auf öffentliche Verkehrsmittel umzuleiten. Damit stehen Vor- und Nachteile von Landflucht und Zentralisierung zunächst in einem Spannungsfeld.

Zur Auflösung dieses Konflikts und zum Verständnis der Wechselwirkungen hilft es, grundlegende ökonomische Gesetzmäßigkeiten zu betrachten: Es besteht offenbar eine große Nachfrage, in die Stadt zu ziehen. Dem steht ein (insbesondere kurzfristig) begrenztes Angebot an Wohnraum, Verkehrsfläche, gegenüber. Durch Verknappung des Angebots oder Reduzierung der Nachfrage kann eine Veränderung des Saldos der Bewegungen erreicht werden. Dem knappen Angebot an Verkehrsraum im städtischen Bereich steht gegenwärtig eine große Nachfrage gegenüber. Allerdings führen Staus und andere externe Effekte zu einem Verlust an Attraktivität – schon allein durch die Verlängerung der Fahrtzeit. Eine Verbesserung des Angebots führt zu erhöhter Nachfrage (gewissermaßen nach dem Sayschen Theorem: „Jedes Angebot schafft sich seine Nachfrage“), gerade weil die Qualität des Angebots mitsteigt. Eine Verschlechterung oder gar eine Einstellung des Angebots (z. B. in Form eines Wegfalls von ÖPNV-Verbindungen) reduziert umgekehrt die tatsächlich nachgefragte Menge. Dabei ist zu beachten, dass die Wechselwirkungen über den Verkehrsbereich hinausgehen. Fehlt einem Unternehmen eine geeignete Transportmöglichkeit für seine Erzeugnisse, wird es schließen oder abwandern. Damit wandern auch die Arbeitskräfte ab, wodurch sich neben dem Güterverkehr zahlreiche weitere Verkehrsnutzungen zu Arbeits-, Freizeit- und Einkaufszwecken verschieben (mit weiteren Folgewirkungen für den Einkaufsstandort).

Jede Reaktion des Angebots auf die veränderte Nachfrage löst damit als Zweitrundeneffekt eine erneute Reaktion der Nachfrage aus. Reagiert die Politik wie bisher auf die Landflucht, indem sie der veränderten Nachfrage folgt, verstärkt also das Verkehrsnetz in der Stadt durch neue Straßen und Linien und zieht sich aus dem Land zurück, wo die Benutzung zurückgegangen ist, löst sie damit eine neue Reaktion in gleicher Richtung aus. Diese Politik verstärkt damit die Landflucht, ohne dass sich die Lebensbedingungen in Stadt oder Land verbessern. Dem besseren städtischen Verkehrsnetz stehen noch mehr Menschen gegenüber, und den weniger Menschen auf dem Land steht ein schlechteres Verkehrsangebot gegenüber. Zweckmäßig wäre es vielmehr, einen Ausgleich der Lebensbedingungen zu erzielen, und zwar aus mehreren Gründen: Die Landflucht zeigt, dass im Schnitt die Lebensbedingungen in der Stadt, oder die Angebote im Zentrum der Peripherie vorgezogen werden. Es besteht also ein Ungleichgewicht und gewissermaßen eine Ungerechtigkeit. Wirkt die Politik dieser entgegen, erreicht sie zweitens einen Ausgleich der Wanderungsbilanz, wobei sie sich die Multiplikatoreffekte zunutze macht, anstatt sie gegen sich arbeiten zu lassen. Drittens kann sie sich zunutze machen, dass zumindest im straßenbaulichen Bereich größere Flächen zur Verfügung stehen.

Konkret bedeutet dies, die Politik das Verkehrsangebot in den Metropolregionen und zentralen Verkehrsadern nicht weiter verbessern sollte (zumindest nicht vordringlich). Die freiwerdenden Gelder sollten darauf verwandt werden, das Verkehrsangebot in der Peripherie zu verbessern. Dabei sollte nicht ein blinder Kapazitätsausbau in Form breiterer Straßen oder längerer Züge (was mangels Nachfrage schlicht sinnlos wäre), sondern eine Verkürzung der Wege und Fahrtzeiten und die Verbesserung von Takten und Anschlüssen im Vordergrund stehen, mit der die Qualität des Angebots verbessert wird. Diese Maßnahmen sollten begleitet werden von vergleichbaren Maßnahmen zur Stärkung der strukturschwachen Regionen in anderen Lebensbereichen, etwa dem Breitbandnetzausbau, da hierdurch die Wechselwirkungen zwischen diesen optimal ausgenutzt werden.

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